© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Viele Unwägbarkeiten
Nach dem Austrittsvotum der Engländer: Die wichtigste Stimme für Wettbewerb und Freihandel will künftig solo singen / Weder Norwegen noch die Schweiz taugen als Modell für die Beziehungen zur EU
Michael Paulwitz

Ist der Austritt Großbritanniens der Anfang vom Ende der EU? Was Geert Wilders, Chef der niederländischen „Freiheitspartei“, frohlockend prophezeit, ist seit dem Brexit-Votum das Schreckgespenst der EU-Nomenklatura. In deren ersten Reaktionen dominierten die Durchhalteparolen: Die verbleibenden 27 Mitglieder stünden „weiter als Union zusammen“, verkündeten EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und der niederländische Premier Mark Rutte in einer gemeinsamen Erklärung am Tag eins nach dem Votum. Schulz behauptete gar, es gebe gar keine Krise.

Tatsächlich ist nicht auszuschließen, daß das britische Beispiel Schule macht. Front-National-Chefin Marine Le Pen, die keineswegs chancenlos in die nächsten Präsidentenwahlen geht, fordert für Frankreich ebenso ein Austrittsreferendum wie Geert Wilders für die Niederlande, wo nach Umfragen nur noch die Hälfte der Wähler zu den EU-Befürwortern zählt. Auch in den skandinavischen Mitgliedstaaten gibt es starke EU-kritische Parteien, die mit einem Exit sympathisieren.

Deutschland allein im      europäischen Haus

Im östlichen Mitteleuropa teilt man die britische Kritik am EU-Zentralismus, sieht die Mitgliedschaft aber als strategische Rückversicherung. Ungarns Premier Viktor Orbán hatte die Briten in ganzseitigen Zeitungsanzeigen zum Bleiben aufgefordert. In der Slowakei, die am 1. Juli die Ratspräsidentschaft übernimmt, sammelt eine rechte Oppositionspartei gleichwohl schon Unterschriften für ein Austrittsreferendum.

In Österreich fordert die FPÖ den Rücktritt von Schulz und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, den Rückbau zentralistischer EU-Institutionen und die Rückgabe von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten. Eine solche Reform, die die Austrittsgründe der Briten und das verbreitete Unbehagen in vielen anderen Mitgliedstaaten ernst nähme, ist freilich von seiten des EU-Establishments kaum zu erwarten.

Beim Treffen der Außenminister der sechs EU-Gründungsstaaten lancierten Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault das Schlagwort einer „flexiblen Union“, eine Neuauflage des Europas der zwei Integrationsgeschwindigkeiten.

Jean-Claude Juncker wiederum denkt nicht an Rücktritt, sondern daran, wie er den Brexit instrumentalisieren kann, um den Euro als Einheitswährung für alle 27 verbleibenden EU-Staaten durchzudrücken. Mit der Idee, ohne London als Bremser und Mahner die EU noch schneller zum Superstaat umbauen und die Nationalstaaten weiter entmündigen zu können, steht Juncker nicht alleine. Schulz und SPD-Chef Sigmar Gabriel wollen die EU gar zu einer „wahren europäischen Regierung“ ausbauen. „Mehr Europa“ als Antwort auf den verbreiteten Ruf nach weniger Brüssel, der im Brexit gipfelte, könnte sich als Zerfallsbeschleuniger erweisen.

Für Deutschland hat ein Austritt Großbritanniens aus der EU unangenehme Nebenwirkungen. Mit 4,9 Milliarden Euro ist das Vereinigte Königreich der drittgrößte Nettozahler nach Deutschland und Frankreich. Selbst wenn die Zahlungsausfälle anteilig auf alle umgelegt werden, wird Deutschland, dessen Nettobeitrag jetzt schon dreimal so hoch ist, auch davon den Löwenanteil übernehmen müssen.

Noch schwerer wiegt, daß mit London die wichtigste Stimme für Wettbewerb und Freihandel aus dem EU-Konzert verschwindet. Der ordnungspolitisch orientierte Norden der EU verliert seine Sperrminorität gegen den staatsinterventionistischen Süden, hatte „Open Europe“-Direktor Michael Wohlgemuth schon im Februar gewarnt.

Die Ansprüche werden schon angemeldet: In dem seit Monaten ausgehandelten Steinmeier-Ayrault-Papier dominiert die französische Lesart der Wirtschafts- und Währungspolitik. Deutschland soll den Südländern zuliebe sein Außenhandelsdefizit abbauen. Die italienische Regierung freut sich unverblümt, daß ihr Gewicht zunehme: „Früher gab es vier große Akteure, jetzt nur noch drei“, triumphiert Außenminister Paolo Gentiloni.

Zwei davon, der italienische Premier Matteo Renzi und der französische Staatspräsident François Hollande, haben sich unverzüglich in Paris getroffen, um ihre Forderungen an die dritte, Bundeskanzlerin Angela Merkel, abzustimmen: Vergemeinschaftung von Asylpolitik, Steuern und Haushalt, eine ausgabenorientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik, finanziert durch gemeinsame Schulden (Eurobonds) stehen auf dem italienischen Wunschzettel. Der Brexit soll genutzt werden, um die ungeliebte „Austeritätspolitik“ zu beenden; vom griechischen Premier Alexis Tsipras bis zur deutschen „Linken“ stoßen Europas Sozialisten in dasselbe Horn.

Ob Deutschland in dieser Situation sein Heil im Dexit suchen soll, ist allerdings nicht einmal in der eurokritischen AfD unumstritten, die den Austritt der „pragmatischen“ Briten bedauert und die EU auf ihren Kern, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, zurückführen will. Immerhin 29 Prozent der Bundesbürger würden nach einer Emnid-Umfrage schon jetzt eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft befürworten. Dreht sich das europäische Dirigismus- und Umverteilungskarussell ohne die Briten noch schneller, könnte der Prozentsatz rasch ansteigen.

Einvernehmliche Trennung oder Rosenkrieg

Manchen EU-Granden kann der Austritt Großbritanniens aus der EU nicht schnell genug gehen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz forderte in herrischer Pose, die Briten sollten ihr Austrittsgesuch bereits auf dem EU-Gipfel am Dienstag nach der Abstimmung stellen.

Wann sie ihren Antrag auf Ausscheiden aus der Union nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages stellen, ist freilich nach geltendem EU-Recht Sache der Briten selbst. Wenn – voraussichtlich im Herbst – ein bis dahin gefundener neuer Premier die Erklärung abgibt, müssen die übrigen Staats- und Regierungschefs ohne Großbritannien die Leitlinien festlegen, nach denen ein damit beauftragtes EU-Gremium mit London ein Austrittsabkommen aushandelt. Artikel 50 sieht dafür maximal zwei Jahre vor, andernfalls erfolgte der Austritt ungeregelt.

Der knappe Zeitrahmen würde wahrscheinlich schon allein für die Ratifizierung des Abkommens durch alle Mitgliedstaaten benötigt. Angesichts der komplexen Materie – die Weiterfinanzierung gemeinsamer Projekte und Fördermaßnahmen und die Zuständigkeit für die Pensionen der zur Zeit rund 1.200 britischen EU-Beamten muß ebenso ausgehandelt werden wie zum Beispiel der Abzug der europäischen Bankenaufsicht (EBA) und Arzneimittelagentur (EMA) aus London – sind langwierige Verhandlungen zu erwarten.

Herauskommen dürfte dabei ein eigenständiges Vertragsmodell. Die Beziehungen der EU zu Norwegen oder der Schweiz taugen nur bedingt als Vorbild: Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, dem auch Island und Liechtenstein angehören, zwingt Oslo zur Übernahme aller EU-Binnenmarktregeln und zu Zahlungen in die EU-Kassen – alles also, was die Briten gerade abgewählt haben. Bern wiederum verhandelt über die Übernahme neuer EU-Rechtsakte jeweils einzeln. Denkbar ist auch ein Freihandelsabkommen wie beispielsweise zwischen der EU und Kanada.

Streit kann es rasch geben, wenn Großbritannien, solange es noch EU-Mitglied ist, Freizügigkeit und Sozialleistungen für EU-Bürger bereits einschränkt. Den hierzu bei Jahresbeginn ausgehandelten Kompromiß haben die EU-Spitzen schon für hinfällig erklärt.

Die EU-Kommission dringt auf rasche Trennungsverhandlungen und möglichst wenig Zugeständnisse an Großbritannien, um potentielle Nachahmer im Kreis der EU-Staaten abzuschrecken. Ein belgischer Diplomat ist bereits als Verhandlungsführer bestimmt; der Flame Didier Seeuws gilt als harter Unterhändler. Würde die EU allerdings protektionistische Schranken aufstellen, um die „abtrünnigen“ Briten zu bestrafen, schnitte sie sich angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung ins eigene Fleisch.

Viel Spekulation über     wirtschaftliche Folgen 

Aktienkurse, insbesondere Bankentitel, und der Wert des britischen Pfunds sind auf die Nachricht von der Ausstiegsentscheidung hin zwar zum Teil deutlich eingebrochen; der von manchen Warnern zur Abschreckung prophezeite große Crash ist freilich ausgeblieben. Auch nach dem Brexit-Votum dreht die Welt sich vorerst weiter. Die Ökonomenzunft überbietet sich gleichwohl mit Untergangsszenarien, der EU-Austritt könne die Briten Arbeitsplätze in Millionen- und volkswirtschaftliche Einbußen in dreistelliger Milliardenhöhe kosten. Ob Großbritannien ohne die EU in die Rezession rutscht, muß spekulativ bleiben, solange die Modalitäten des Austritts nicht feststehen.

Das trotzige „Drinnen ist drinnen und draußen ist draußen“, das Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in den letzten Monaten wiederholt und mehrsprachig vorgetragen hat, ist aus ökonomischer Sicht jedenfalls töricht. Zwar führt Großbritannien 44 Prozent seiner Exporte im Volumen von 184 Milliarden Euro in die EU aus; dafür kommen 53 Prozent aller britischen Importe, insgesamt 301 Milliarden Euro, aus den EU-Staaten. Die in den vergangenen Jahren wiedererstarkte britische Industrie ist eng mit Zulieferern und Abnehmern vom Kontinent verbunden.

Diese müssen also ein Eigeninteresse haben, die im EU-Vergleich zweitgrößte europäische Volkswirtschaft als Handelspartner nicht auszugrenzen. Das gilt besonders für Deutschland, das mit Gütern und Dienstleistungen im Wert von 84 Milliarden Euro doppelt soviel ins Vereinigte Königreich exportiert, wie es von dort importiert. Entsprechend hoch wird die Wirtschaft, besonders die deutsche, darauf drängen, die Wirtschaftsbeziehungen der EU zu Großbritannien offen zu gestalten.

Mit London verliert die EU allerdings ihren bislang wichtigsten Finanzplatz. Ob Frankfurt von einer möglichen Verlagerung von Arbeitsplätzen aus der Londoner City tatsächlich stärker profitiert als zum Beispiel Dublin, ist dabei noch lange nicht ausgemacht; nicht einmal, ob es überhaupt zu nennenswerter Abwanderung kommt. Auch in der englischen Finanzindustrie, die eng mit der anglo-amerikanischen Welt verbunden ist, gibt es Stimmen, die im freieren Auftreten auf dem globalen Parkett größere Chancen wittern als im engen Korsett europäischer Regulierungen.

Möglich ist, daß Investitionen von außerhalb Europas, die Großbritannien als Eingangstor zum europäischen Markt nutzen wollen, künftig weniger werden. Global operierende Unternehmen sind es gewohnt, sich auf unterschiedliche Marktbedingungen einzustellen. Am Ende könnte die Erkenntnis stehen, daß Wohlstandsmehrung durch Wettbewerb und Freihandel ohne zentralistische Bürokratien sogar besser zu verwirklichen ist. Für gläubige Eurokraten ist das der eigentliche Brexit-Alptraum.