© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Der große Katzenjammer
Brexit II: Während Optimisten von einer großen Schweiz träumen, rechnen einige Branchen mit dem Schlimmsten / Alternative Europäischer Wirtschaftsraum?
Albrecht Rothacher

Nach dem Brexit-Siegestaumel hat nun die erste bange Bilanzierung begonnen. Was passiert wirklich, wenn die britische Wirtschaft um 0,5 bis drei Prozent einbricht und in jener „leichten Rezession“ (Bank of England) jeder Durchschnittshaushalt laut Schatzkanzler George Osborne im Schnitt 4.300 Pfund an Einkommensverlusten erleidet? Das Pfund brach um zehn Prozent zum Dollar und nicht ganz so stark gegenüber dem Euro ein, was Importe und Auslandsreisen für Briten verteuert. Was ausländische Immobilienkäufer und Touristen erfreut, ist für die britischen Exporteure nur eine halbe Entlastung: Englands industrielle Basis ist so schwach, daß sie für die Endfertigung so von auswärtigen Teilelieferanten und importierten Vorprodukten abhängt, daß die neue Schwachwährung kaum hilft. 

Angesichts seines hohen Handelsbilanzdefizites ist England von ausländischer Kapitalzufuhr enorm abhängig. Doch die dürfte sich angesichts der politischen Ungewißheiten rar machen. Die britische Autoindustrie ist in ausländischer Hand: Primus Jaguar/Land Rover ist eine Tochter der indischen Tata Motors, Rolls-Royce und Mini gehören zu BMW. Bentley (VW), Toyota und Vauxhall (Opel/GM) haben sich zwar zu ihren Inselstandorten bekannt, aber Kapazitätserweiterungen sind wohl passé. Der zweitgrößte Autohersteller Nissan (japanisch-französisch) soll schon über Produktionsverlagerungen diskutieren.

Eine ähnliche Situation bei der Stahlherstellung: Wird angesichts des chinesischen Dumpings und der weltweiten Überkapazitäten Tata Steel noch in England verhütten? Auch Airbus wird wohl seine geplanten Investitionen umleiten. Die Flugbranche – von British Airways über Easyjet bis Virgin Atlantic – dürfte leiden, wenn sie nicht Teil des EU-Luftverkehrsbinnenmarktes bleibt. Ausländische Airlines könnten auf kontinentale Flughäfen umsteigen. Sicher ist, daß der Finanzplatz London mit seinen 2,2 Millionen Arbeitsplätzen nicht ungeschoren davonkommt. Den „Paß“, mit dem eine Bank mit Sitz in London in der ganzen EU Finanzgeschäfte betreiben konnte, wird es nicht mehr geben. Amsterdam, Dublin, Frankfurt, Luxemburg oder Paris bieten sich schon als Alternative an. Traditionelle Institute wie Lloyds, RBS, HSBC, Goldman Sachs, JP Morgan und die Deutsche Bank haben Stellen bereits verlegt. Auch die Börsenfusion Frankfurt-London dürfte nun tot sein.

Deutscher Exportüberschuß beträgt 51 Milliarden Euro

Eine Scheidung nach 43 Jahren Gütergemeinschaft bringt aber für beide Seiten Verluste. Mit Ausfuhren von 89,3 Milliarden Euro war das Vereinigte Königreich 2015 der drittwichtigste Markt Deutschlands. Bei den deutschen Importen lag UK hingegen mit 38,3 Milliarden zwischen der Tschechei und Österreich. Der deutsche Exportüberschuß von 51 Milliarden Euro ist nun gefährdet, dennoch erscheint der Grexit (Griechenland steht mit 4,7 Milliarden Euro auf Rang 39 der deutschen Exportziele) den Europhilen immer noch als die größere Wirtschaftskatastrophe.

Zwei Jahre könnten die Trennungsverhandlungen dauern, bei denen laufende Gemeinschaftsprojekte – von EU-Friedensmissionen bis zu Infrastruktur – abgewickelt werden. Dann gilt es den künftigen Modus vivendi zu finden. Am schmerzlosesten wären die Modelle Norwegen – das mit einem Großvertrag, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), am Binnenmarkt teilnimmt – und der Schweiz, die das mit einer Vielzahl von Einzelverträgen tut.

Beide zahlen jedoch jährlich dreistellige Millionenbeträge für das Vergnügen in den EU-Haushalt, sie dürfen auch EU-Einwanderer und Arbeitnehmer nicht diskriminieren. Gleichzeitig müssen sie die EU-Binnenmarktregeln übernehmen, ohne mitentscheiden zu dürfen. Dann gibt es noch das Modell Türkei: Gemeinsame Zollunion, jedoch ohne Landwirtschaft und Dienstleitungen. Dies dürfte manchen Londoner Bankern und englischen Farmern, die sich an den großen EU-Markt und das Manna aus Brüssel gewöhnt haben, ebenfalls nicht schmecken. Auch die ganz normale Teilhabe an der Welthandelsorganisation (WTO) ist denkbar – dann muß Großbritannien – oder England/Wales – Verhandlungen mit allen WTO-Mitgliedern aufnehmen. Danach könnte es ein Freihandelsabkommen mit der EU nach dem Vorbild Kanadas oder Südkoreas geben.

Kompliziert wird die britische Position nicht nur durch den schottischen Wunsch nach Unabhängigkeit und Verbleib in der EU sowie das nordirische Problem. Spannend wird zudem werden, eventuell auch den EU-Ausstiegsvertrag einem Referendum zu unterwerfen: Wenn alle Kosten und Verluste klar sind, bietet sich dann die Gelegenheit, die Entscheidung vom 23. Juni noch einmal zu überdenken. Ob dann der Exit vom Brexit kommt?

Erklärung der Industrieverbände BDA, BDI und Medef (Frankreich) zum Brexit: bdi.eu/