© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Die Flimmerkiste wird maßgeschneidert
Fernsehen: Neue Anbieter und IT-Firmen verändern die Fernsehlandschaft – hin zu mehr Individualität
Elliot Neaman

Der erste Werbefilm der TV-Geschichte drehte sich um Uhren der Marke Bulova. Am 1. Juli 1941, vor 75  Jahren, wurde er in New York ausgetrahlt. Die Werbung beflügelte das Geschäftsmodell Fernsehen und trug zur Weiterentwicklung bei. In seiner kurzen Geschichte hat das Fernsehen schon mehrere vermeintliche Epochenwechsel miterlebt. Der Rundfunk werde die Verbreitung von Fernsehgeräten nicht überleben, lautete die Voraussage der Propheten seinerzeit. 

Wenige Jahrzehnte später entstand die Überzeugung, Kabelsender würden die herkömmlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten vom Markt drängen. Dann wieder sollte die Übertragung per Satellit dem Kabelfernsehen den Garaus machen. Und heute bedeutet das Internet angeblich das Ende sämtlicher TV-Formate: Der große Bildschirm im Wohnzimmer, vor dem sich die Familie versammelt, so die Behauptung, werde bald der Vergangenheit angehören. Letztere Weissagung dürfte sich als ebenso falsch erweisen wie alle anderen.

Zuschauer hatten nie mehr Auswahl

Fest steht, daß die Nutzung und Verfügbarkeit von Alternativen in Form von Tablets, Smartphones und anderen neuartigen Geräten, die derzeit noch im Entwicklungsstadium sind, unseren Medienkonsum grundlegend verändert haben und weiterhin verändern werden. 

Bei besserer Qualität der verfügbaren Inhalte haben Verbraucher heute sehr viel mehr Auswahl als je zuvor. Freilich ist und bleibt der Mensch ein soziales Tier und wird als solches auch in einer technologisch revolutionierten Zukunft nicht auf das Gemeinschaftserlebnis rund um den audiovisuellen Herd verzichten wollen. 

Verändern wird sich allenfalls das Übertragungssystem, das die medialen Inhalte in unsere Wohnungen holt. Anstelle des passiven Medienkonsums tritt eine dynamische Kommunikation zwischen einer Vielzahl von Anbietern.

Neue Sender wie Netflix und Hulu, die als Online-Videotheken die Übertragung von Audio- und Videoinhalten auf internetfähige Geräte zulassen, werden die in den USA nach wie vor verbreiteten Kabelsender verstärkt unter Druck setzen. 

Großkonzerne wie Google, Apple und Amazon sichern sich mit eigenen Geräten und Videoportalen bereits hohe Marktanteile. Der Fernseher der Zukunft – ein interaktiver Computer, der Inhalte aus unterschiedlichen Quellen bezieht und die ausgestrahlten Informationen in einer nahtlosen Schleife den individuellen Verbraucherpräferenzen anpasst – wird mit der herkömmlichen „Glotze“ vermutlich wenig gemein haben. 

Auch die öffentlich-rechtlichen Sender werden zunehmend unter Druck geraten, da sich staatliche Subventionen zur Sicherung einer dem Gemeinwohl dienenden medialen Versorgung durch nichtkommerzielle Anbieter im Zeitalter von Social Media immer weniger rechtfertigen lassen.

Der Umgang mit den Nutzerdaten in dieser schönen neuen Welt dürfte die Debatten weiter anfachen, die vor allem in Europa um den Datenschutz geführt werden. Am ehesten trifft den Fernseher der nächsten Generation die Vorstellung einer Art Suchmaschine, die dem einzelnen Nutzer die Möglichkeit bietet, Favoritenlisten zu erstellen und die angezeigten Inhalte entsprechend den eigenen Präferenzen anzupassen. 

Über diese Eingaben hinaus werden zukünftige Geräte über eine Abhörfunktion verfügen, mit deren Hilfe sie Gespräche in ihrem unmittelbaren Umfeld aufnehmen können. Tatsächlich gibt es das heute schon: So wurde bereits im vergangenen Jahr bekannt, daß die Spracherkennung der Smart-TVs von Samsung zugleich als Abhörfunktion dient – eine Offenbarung, über die sich zahlreiche Verbraucher echauffierten. Dabei sind viele Haushalte bereits über „intelligente“ Kühlschränke, Thermostate, Türklingeln und andere Geräte vernetzt und liefern ständig Daten, die die Möglichkeiten einer Überwachung durch „Große Brüder“ ins unendliche vervielfachen.

Bildschirme verschlingen den Rest der Freizeit 

Die Auswahl an verfügbaren Sendungen – von seichter Unterhaltung über ernste Dramen bis hin zu Dokumentar- und Spielfilmen der verschiedensten Genres – übersteigt die Kapazitäten des einzelnen Nutzers bei weitem. Dabei ist nach Meinung von Experten bei gestiegener Anspruchshaltung der Zuschauer das Interesse an gut erzählten Geschichten so stark wie eh und je. 

Der Fernseher wird zum Überwachungsgerät

Während in der Vergangenheit die erfolgreichsten Sendungen in der Lage waren, wöchentlich oder gar allabendlich ein Millionenpublikum an den Fernseher zu bannen, bleiben derartige Einschaltquoten in Zukunft höchstens großen Sportveranstaltungen und Kulturereignissen vorbehalten. Dafür vervielfacht sich das Angebot an qualitativ hochwertigen Nischeninhalten.

Auch die Weiterentwicklung von „Virtual Reality“-Technologien wird die Zukunft des Fernsehens beeinflussen. Während heute zur Nutzung von VR-Inhalten noch klobige Headsets erforderlich sind, könnten zukünftige Geräte so klein sein, daß sie sich beispielsweise in Kontaktlinsen einbauen lassen und somit eine geradezu „magische“ Nutzererfahrung ermöglichen: Zuschauer könnten auf der Leinwand mit Filmstars interagieren, virtuelle Konzertbesucher ihre Idole aus allernächster Nähe erleben und Sportfans bei Großveranstaltungen in der vordersten Reihe sitzen. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten zur Überwindung räumlicher Trennungen bei der Pflege von Freundschaften, Familien-, Liebes- und Geschäftsbeziehungen.

Ob dieser Zukunftsaussichten wird so mancher Bedenkenträger zweifelsohne Alarm schlagen: Die Bildschirme würden mit den Überresten unserer Privatsphäre auch jeglich verbliebene Freizeit verschlingen. Im Zeichen der Raserei von einer virtuellen Erfahrung zur nächsten fiele unser Zeitempfinden einer unvorstellbaren Beschleunigung anheim. Familiäre, freundschaftliche und soziale Bande würden zerreißen, je mehr wir uns aus der Lebenswelt in unsere computerisierten Netzwerke zurückziehen, unsere Privat- und Intimsphäre restlos durchdringen.

Solche Befürchtungen werden in der Regel in einem Ton der Übertreibung und Hysterie vorgebracht, der sie ihrer Glaubwürdigkeit beraubt. Die Frage nach den sozialen und sozialpolitischen Konsequenzen ist angesichts der wachsenden virtuellen Kommunikation – einer künstlichen Welt – zu wichtig, als daß sie im Stimmengewirr untergehen darf.