© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Der Revolutionär aus dem Nobelviertel
Die Biographie über den Grünenpolitiker, RAF-Anwalt und taz-Gründer Hans-Christian Ströbele gerät kritischer als erwartet
Billy Six

Es ist das Ende der heiteren Stimmung bei der Buchvorstellung im Berliner Brecht-Haus. Eben noch ging es um die über ein halbes Jahrhundert zurückliegende Bundeswehrzeit des grünen Urgesteins Hans-Christian Ströbele – „Kamerad Struppi“ sei beliebt gewesen, habe Liebesbriefe für die Soldatenfrauen geschrieben und Weibergeschichten erlebt. Es ist die Lieblingsstelle des taz-Journalisten Stefan Reinecke, der jüngst eine Ströbele-Biographie publiziert hat. 

Plötzlich meldet sich eine Kreuzberger Lehrerin. Sie finde den Hintergrund des Grünen-Bundestagsabgeordneten und früheren RAF-Anwalts „nicht so lustig, wie Sie es hier vortragen“. So gebe es etwa Verwirrung um den tatsächlichen Wohnsitz des Politikers, der seit 2002 als erster und bisher einziger Grüner für Berlin-Kreuzberg das Direktmandat im Deutschen Bundestag hält. Er suggerierte über Jahre, „im Kiez“ zu leben; das war Teil der „Marke Ströbele“. Doch das sei falsch. Dem stimmt  auch Reinecke zu, und doch benennt er nicht klar, daß der Mann seines Interesses seit 1967 im Nobelviertel Grunewald wohnt. Zwar listet er mit der Akribie eines Buchhalters das offizielle Leben des Hans-Christian Ströbele auf. Enträtseln kann er ihn nicht. 

Gänzlich unkritisch ist das Werk dennoch nicht, eher sachlich und nüchtern. „Ströbele ist auch als selbsterklärter Revolutionär pragmatisch und hat zu Ideologien ein praktisches Verhältnis“, schreibt Reinecke. Und: „Er nimmt, was gerade paßt.“ Fast ein Viertel des Buches nehmen die ersten beiden Kapiteln „Kindheit und Jugend“ sowie „Wehrdienst und Studium“ ein. Dabei wird deutlich: Auch das Private ist immer hochpolitisch, ganz im Sinne der 68er, zu denen Ströbele jedoch eigentlich nie richtig gehörte. 

Reinecke formuliert vorsichtig: „Ströbele gilt fast fünfzig Jahre danach als letzter 68er in der Politik – dieses eingefräste Bild steht in merkwürdigem Widerspruch dazu, daß er in den so gewissenhaft ausgeleuchteten Jahren 1967 bis 1969 nahezu unsichtbar bleibt.“ Als Sohn eines leitenden Chemikers der Schkopauer Buna-Werke und Mitglieds von NSDAP und Reiter-SS wird er 1939 in eine Oberschichtfamilie geboren. Onkel Herbert Zimmermann meldet sich freiwillig in aussichtsloser Lage an die Ostfront, ist später Anhänger der Adenauer-CDU und legendärer Fußball-Kommentator 1954 bei der WM in Bern („Aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen – Rahn schießt – Tor! Tor! Tor! Tor!“)

Ströbele denkt konservativ, liest die Welt und kommt gar nicht auf die Idee, sich dem Wehrdienst zu entziehen. „Wie wird so jemand ein Linker?“ fragt Stefan Reinecke sich in seinem Vortrag selbst. „Das habe ich Ströbele“, mit dem er per du ist, „ungefähr zwanzigmal gefragt und keine schlüssige Antwort erhalten.“ Im Buch schlägt sich dieser tief gehende Zweifel allerdings nicht nieder. Das liegt auch daran, daß Reinecke bei seinen monatelangen Recherchen neben Hans-Christian Ströbele zwar sechzig Personen befragte – allerdings ausschließlich wohlwollende, aus dem Kreise von Geschwistern, Freunden und linken Weggefährten. Skeptische Zeitzeugen kommen nicht zu Wort. 

Die kritische Vorgänger-Biographie, „Das grüne Irrlicht“ (Auflage 45.000), habe er zwar gelesen, jedoch als „gräßlich“ verworfen. „Schnüffelei“ nach Wohnsitz und Vermögensverhältnissen halte er „nicht für investigativ, sondern falsch“. Ebenso, gleich alles in Frage zu stellen. Die These vom Blender und Alibi-Linken im Sinne des herrschenden Systems könne er nicht teilen. 

Quintessenz seiner nächsten zehn von insgesamt zwölf Kapiteln zur stets politisch verwobenen Karriere als Rechtsanwalt und Politiker bleibt, daß Ströbele zwar widersprüchlich, ja opportunistisch, am Ende jedoch „linker Bürger“ gewesen sei und dazu „Moralist“. So zitiert Reinecke vollständig die „elektrisierende“, aber unerlaubte Protestrede Ströbeles vor dem Plenum des Deutschen Bundestags anläßlich des Angriffs der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahre 1999. Ein mutiger Auftritt gegen die eigene, von seiner grünen Partei mitgetragene Bundesregierung. Selbst Peter Scholl-Latour nötigte das konsequente Nein Ströbeles zu jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr Respekt ab. 

Doch Euphorie über ein Leben für die linksalternative Sache, geschrieben vom „inoffiziellen Chefkommentator der taz“, wie der Spiegel analysiert, sieht anders aus. Dank für Ströbeles unverzichtbare Rolle bei Gründung und Rettung der taz ab 1978 oder dem Zustandekommen von Rot-Grün in West-Berlin 1989 ist nicht herauszulesen. Und so sind auch nur die ersten hundert Seiten, eben der private Teil, von Ströbele autorisiert. 

Dokumente zu seiner

Verurteilung unter Verschluß

Bei einer Veranstaltung betont der 77jährige, „der Völkermord-Krieg der Amerikaner in Vietnam“ sei viel zuwenig als „Gefühl der Ohnmacht für die deutschen Linken“ und „wahrer Grund für meine Radikalisierung“ herausgearbeitet worden. Reinecke schreibt: „Er scheitert an seinen eigenen Irrtümern – an dem Glauben, daß die RAF durch ihre Abstammung aus der Studentenrevolte geadelt ist und einen natürlichen Anspruch auf Solidarität hat.“ „Ja, du hast mir Akten gegeben“, reagiert der Autor auf Ströbeles Unzufriedenheit, „aber zu wenige.“ 

Ein Sitznachbar im Auditorium blickt irritiert. Das brisanteste Stück, die Strafsache „Az. 2 P Kls 5/77“ vorm Berliner Landgericht aus dem Jahre 1981, durfte nämlich auch Stefan Reinecke nicht einsehen. Für sein Info-System wurde RAF-Anwalt Ströbele damals wegen „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ zu einer 18monatigen Haftstrafe verurteilt, die dann im Revisionsverfahren auf zehn Monate reduziert wurde. Die Dokumente unterliegen einer Sperre, die Christian Ströbele für niemanden aufheben will. Nicht einmal für seine taz. 

Ein Zuschauer spekuliert: „Vielleicht wird man die Geschichte der Bundesrepublik noch mal umschreiben müssen.“ Ströbele reagiert ahnungslos. „Ja, sicher. Meine Biographie muß umgeschrieben werden.“ Die sei nämlich immer noch zu wenig positiv. Deshalb plane er, bald eine eigene zu publizieren.

Stefan Reinecke: Ströbele. Die Biografie. Berlin Verlag, Berlin 2016, gebunden, 464 Seiten, Abbildungen, 24 Euro