© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Der Flaneur
Tempo aus dem Leben nehmen
Paul Leonhard

Ein Schild weist auf das Städtchen tief im Hinterland der Autobahn. Ich bremse und fahre ab. Auf einem Seitenstreifen wartet schon die letzte Mitfahrerin: eine schlanke Endvierzigerin in Khakihosen und Pullover, die versucht hat, mit einem burschikosen Kurzhaarschnitt ihre rote Lockenpracht zu bändigen. Der Rucksack wird im Kofferraum verstaut. Sie verabschiedet sich von einer kleinen weißhaarigen Frau, die sie offenbar mit ihrem Kastenwagen an die Autobahn gebracht hat.

Das sei ihre achtzigjährige Mutter gewesen, erzählt sie später, als wir wieder auf der Autobahn Richtung Breslau fahren. Seit diese nicht mehr so gut zu Fuß sei, fahre sie um so mehr mit dem Auto. Sie selbst wolle bis zur Grenze und dann zurück in ihr Städtchen laufen. 50, 60 Kilometer auf der Via Regia, der als Pilgerweg ausgeschilderten ehemaligen Königsstraße, die in ihrer gesamten Länge Moskau mit Santiago de Compostela, der Hauptstadt der Autonomen Gemeinschaft Galicien, verbindet.

Die Endvierzigerin hat ihr Bündel geschnürt und ist ins Unbekannte aufgebrochen.

Sie habe viel von Pilgern gelesen, und nun wolle sie es selbst einmal probieren. „Meine Freunde haben mich für verrückt erklärt“, erzählt sie. Aber ihre erwachsenen Kinder fanden die Idee gut, und der Mann müsse ohnehin arbeiten. So hat sie an diesem grauen Tag ihr Bündel geschnürt und ist ins Unbekannte aufgebrochen.

Das erste Unbekannte ist die von mir über die Mitfahrzentrale angebotene Fahrt. „Meine Kinder haben damit nur gute Erfahrungen gemacht und mir zugeraten“, sagt sie. Die Grenzstadt an der Neiße will sie sich ansehen und dann mit offenem, neugierigem Blick zurückwandern, ganz entschleunigt. Privatquartiere sind im Pilgerführer abgedruckt. „Da muß ich nur kurz vorher anrufen, eine Matratze reicht mir völlig aus“, sagt die Frau und blickt voller Vorfreunde auf die vorbeihuschende Landschaft.

 Ich bewundere sie dafür, daß sie Tempo aus ihrem Leben nehmen möchte und lenke das Auto wieder auf die Überholspur.