© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Unfaßbare Schlampereien
Österreich: Verfassungsgerichtshof schreibt Geschichte / FPÖ-Kandidat Norbert Hofer wieder im Rennen
Verena Inauen

Es war ein einzigartiges Verfahren in der hundertjährigen Geschichte der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH), der sonst zumeist hinter verschlossenen Türen berät, lud mehr als 90 Zeugen, um die von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache nach der Bundespräsidenten-Stichwahl eingebrachte Anfechtungsbeschwerde zu verhandeln. Sie mußten den 14 Richtern darlegen, wie in ihren Bezirken mit den Briefwahlstimmen verfahren wurde. Quer durch Österreich – von Gänserndorf an der slowakischen Grenze bis Bregenz im äußersten Westen – offenbarten sich dabei teils massive Gesetzesverstöße. 

Zwar lag kein konkreter Beweis einer Wahlmanipulation vor, jedoch konnte eine solche wegen des Bruchs der Vorschriften auch nicht ausgeschlossen werden. „Die Stichwahl muß in ganz Österreich zur Gänze wiederholt werden“, lautete deshalb das Urteil des Verfassungsgerichtshof-Präsidenten Gerhart Holzinger. Worte, die Jubel bei den Freiheitlichen bedeuteten und Zähneknirschen bei linksgerichteten Parteien wie den Grünen. 

Mit einer knappen Mehrheit von nur 30.000 Stimmen war der grüne Kandidat Alexander Van der Bellen bei der Stichwahl am 22. Mai als vorläufiger Sieger hervorgegangen. Verholfen hatte ihm dazu das Briefwahlergebnis, welches regelmäßig von den Entscheidungen an der Wahlurne abweicht. 

Ob Manipulation oder nicht,  der Schaden ist immens

Stimmten in den Wahllokalen nur 48 Prozent für Van der Bellen (VdB), so waren es bei den Briefwählern fast 62 – ein derartiger Unterschied ist in einem fast 17 Prozent großen Ausschnitt der Gesamtwählerschaft jedoch statistisch kaum erklärbar. „Satte 72 Prozent der FPÖ-Wähler glauben an eine bewußte Manipulation. Die Gesamtbevölkerung glaubt dies zu 33 Prozent.“, bestätigt Meinungsforscher Peter Hajek dem Nachrichtenportal APA.

Unter Hochdruck brachten die Freiheitlichen nur acht Minuten vor Mitternacht des 7. Juni – und damit kurz vor dem offiziellen Enddatum der Einspruchsphase – die 150 Seiten dicke Anfechtung beim Verfassungsgerichtshof ein. In 94 von insgesamt 117 Bezirkswahlbehörden sei es demnach zu Gesetzeswidrigkeiten gekommen, so Strache, der dies in einer Pressekonferenz mit den beiden Rechtsanwälten Dieter Böhmdorfer, ehemaliger Justizminister, und Rüdiger Schender, ehemaliger Nationalratsabgeordneter, bekanntgab. 

Auch der rennomierte Verfassungsjurist Heinz Mayer, der sich im Wahlkampf klar zu Van der Bellen bekannt hatte, gab der FPÖ weitgehend recht. Es sei eine „unfaßbare Schlamperei“, was hier ganz offensichtlich passiert sei, die Pannen bei der Briefwahl seien „unglaublich“, und die auszählenden Organe hätten sich „die erforderlichen Gesetze anscheinend nicht einmal durchgelesen vorher, geschweige denn sie beachtet“.

Bereits am ersten Verhandlungstag offenbarten sich zahlreiche Gesetzesübertretungen in Zusammenhang mit der Auszählung der Briefwahlstimmen. Wahlbeisitzer berichteten etwa von bereits geöffneten Kuverts, bevor sie im Auszählungslokal anwesend waren, andere von der Bezirkshauptmannschaft, welche selbstständig, ohne Parteien die Stimmzettel auszählte und Beisitzer wieder wegschickte. 77.926 Stimmen wurden laut Gericht von den Rechtswidrigkeiten erfaßt, die theoretisch beiden Kandidaten hätten zufallen können. Somit hätte auch Hofer die Stichwahl gewinnen können. Dies galt für den VfGH als weitere Begründung für die Annullierung. 

Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) akzeptiert zwar das Ergebnis des VfGH, wünscht sich für die Neuwahl allerdings einen kurzen, von Emotionen freien Wahlkampf. Noch-Bundespräsident Heinz Fischer hofft, daß die Österreicher den erneuten Gang zur Wahlurne locker nehmen und sich sagen: „Da ist gepatzt worden, und das wird nun korrigiert.“ Einen Verlust an Vertrauen in die Demokratie sieht er allerdings nicht. 

Daß vor allem bei der umstrittenen Briefwahl – die FPÖ forderte schon mehrmals eine Abschaffung – getrickst worden sei, suchten Medien wie etwa der ORF, der Standard, Profil und Kurier bis zuletzt jedoch zu negieren. Menschliche Fehler könnten passieren und auch eventuelle Unregelmäßigkeiten würden das Ergebnis nicht maßgeblich beeinflussen, 

Der langjährige Profil-Chefredakteur Herbert Lackner sagte etwa kurz nach der Urteilsverkündung sogar eine drohende Staatskrise voraus, wenn das Ergebnis bei der Wahlwiederholung umgedreht werden würde: „Das wäre dann wirklich eine schlimme Situation.“ 

Doch der erst kürzlich vereidigte ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka, welcher ebenso für Wahlen zuständig wäre, wies jegliche Kritik von sich. Er wisse auch nicht, warum der VfGH nie auf das Innenministerium oder Parlament zugekommen sei, obwohl bekannt gewesen sei, daß Ergebnisse und Hochrechnung regelmäßig bereits vor Ende der Auszählung veröffentlicht wurden.

Öxit – für politischen Zündstoff ist gesorgt 

Die Anwälte Alexander Van der Bellens halten eine Fälschung für ausgeschlossen und eine Wiederholung, wie sie das Höchstgericht angeordnet hatte, für nicht unbedingt notwendig. Schließlich habe niemand der Zeugen ausgesagt, daß es zu einer Manipulation kam. 

Auch Van der Bellen verweist im Gespräch mit der Tageszeitung Österreich darauf, daß es „keinen einzigen Hinweis“ auf eine Wahlfälschung gegeben habe. „Wenn sich die blauen Herren“, so der  72jährige in Richtung FPÖ, nun als als „Hüter des Rechtsstaates aufspielen“ wollten – „dann sollen sie halt“.

Überhaupt, so der Grünen-Politiker  weiter, glaube er, daß ihm die Debatte um den Brexit nützen werde. Die Briten hätten sich „enorm in die Bredouille geritten“. Die Wirtschaft werde einen enormen Abschwung hinlegen, Jobs gingen verloren. Jeder sehe, wohin das führe. Die Österreicher, so Van der Bellen, wollten mit großer Mehrheit keinen Öxit oder Brexit, wie ihn „Straches Freunde wie Le Pen oder Wilders“ forderten.

Gegen diese oft auch durch die Medien verstärkte, „mehr als überspitzt“  dargestellte Sichtweise verwahrte sich Gegenkandidat Hofer. Ein Öxit stehe für ihn nicht im Vordergrund. Es gehe vor allem darum, daß die EU nun „aus Fehlern lerne“. In diesem Kontext fordert der 45jährige neue EU-Verträge, die eine echte Subsidiarität und eine bessere Kompetenzaufteilung zwischen den EU-Staaten sicherstellen müßten. Problematisch werde es erst dann, wenn die Türkei der EU beitreten oder sich die EU zu einem Zentralstaat unter Entmachtung der Mitgliedsstaaten entwickeln würde. 

Zündstoff genug für die Neuwahl, die am 2. Oktober stattfinden wird. Dann will Innenminister Sobotka das Ergebnis erst am Montagabend, nach Auszählung der Briefwahlstimmen, veröffentlichen.