© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Kaum Interesse an Effizienz
E-Governance: Während der digitalen Verwaltung weltweit oberste Priorität eingeräumt wird, gerät Deutschland zunehmend ins Hintertreffen
Marc Zoellner

Längst hat das digitale Zeitalter beinahe sämtliche Facetten des Lebens der Menschen erfaßt. Kaum noch existieren Nischen im menschlichen Handeln, die nicht von Halbleitern und Prozessoren begleitet und oftmals sogar bestimmend geprägt werden. Computer ermöglichen den globalen Austausch von Geldwerten und Informationen und rufen tiefgreifende Veränderungen in Staaten hervor – bis hin zum Umsturz politischer Systeme wie 2011 in Tunesien. 

Die digitale Revolution stellt eine Entwicklung dar, die erstaunen läßt – und das nicht nur dank ihres prognostizierten Finanzwerts. Allein bis 2019 verspricht dieser jährlich über 1,7 Billionen US-Dollar an weltweitem Umsatz. 

Um so mehr allerdings erstaunt es, daß gerade Deutschland als weltweit führender Industriestandort und High-Tech-Schmiede den Anschluß zu verlieren droht. Doch nicht die Wirtschaft gerät ins Hintertreffen der Digitalisierung, sondern die Bundesregierung sowie die dieser unterstellten Behörden im Bund, in den Ländern und den Kommunen. 

Hinter Italien – ein Platz, der oft nicht akzeptiert wird 

Im globalen Wettbewerb, verkündet eine Studie der Vereinten Nationen, belegt die Bundesrepublik knapp vor Irland und Italien gerade einmal den 21. Platz. Und auch im internen europäischen Ranking, mahnt ein Forschungsbericht der EU-Kommission, finde sich Deutschland nur auf Platz 19 wieder. Das sei „hinter Italien und vor Zypern“, warnt Johannes Ludewig, der Vorsitzende des Nationalen Normenkontrollrats (NKR), „ein Platz, der gewöhnlich nicht akzeptiert wird“.

Worum die Aufregung Ludewigs sich dreht, ist rasch erklärt: E-Government, so nennt sich das Konzept im Fachjargon. Gemeint ist damit die schrittweise Umstellung der Regierungsinstitutionen und Behörden von analog auf digital: durch das Einscannen kompletter Aktenarchive beispielsweise, welche digitalisiert, katalogisiert und anschließend den Bürgern online zugänglich gemacht werden. Durch Behördenpost, die, wann immer möglich, vorrangig elektronisch versendet wird. Ebenso durch die Möglichkeit, Anträge jedweder Art, von der Steuererklärung bis hin zur Ummeldung von Wohnsitz und Arbeitsplatz, online auszufüllen und zu bearbeiten. Von Estland bis Großbritannien sind dererlei Prozeduren schon heute bequem über Smartphone und Heimcomputer möglich. Nur Deutschland sträubt sich noch – sehr zum Leidwesen des Normenkontrollrats.

„Unsere gute wirtschaftliche Lage haben wir in erster Linie dem hohen Stellenwert zu verdanken, den Innovation und Erfindergeist in der deutschen Kultur und Wirtschaft einnehmen. Diese Innovationskultur schlägt sich in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen nieder“, faßt Ludewig in einem Strategiepapier des NKR die Diskrepanz zwischen Staat und Gesellschaft in Deutschland zusammen. „Es ist für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft nicht nachvollziehbar, warum ein so zentraler Bereich wie die öffentliche Verwaltung dauerhaft ein deutlich niedrigeres Digitalisierungsniveau hat, als alle anderen Bereiche unserer Gesellschaft.“

Der Wandel des Staates hin zum E-Government, sind sich die Experten um Ludewig einig, verspräche den deutschen Bürgern und Beamten immerhin gleich dreierlei Vorteil – Effizienz, Transparenz, Partizipation. „Eine konsequente Digitalisierung hilft nicht nur, bürokratischen Aufwand abzubauen, Verwaltungsprozesse einfacher abzuwickeln und bürgerfreundlicher zu machen“, so Ludewig. „Sie ist auch Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Staates und die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.“

Ludewig weiß, daß er nicht nur auf Sand erbaute Schlösser verspricht. Denn immerhin hat sich der Normenkontrollrat unter seiner Ägide zu einer – wenn auch in breiteren Schichten eher unbekannten – Institution im Kampf gegen Bürokratie und Abgabenlast entwickelt.

Vor gut zehn Jahren von der damaligen Bundesregierung als unabhängig fungierendes Gremium gegründet, fiel dem NKR seit September 2006 die Aufgabe zu, nicht nur die Kosten der Informationspflicht deutscher Unternehmen an Staat und Verwaltung modellhaft zu ermitteln. Gleichzeitig sollten auch Lösungsansätze entwickelt werden, diese Ausgabenlast zu senken. Mit Erfolg: Rund 49 Milliarden Euro, berechnete der NKR damals, hätten Unternehmer in Deutschland an Kapital aufzubringen, allein um mit den Behörden zu interagieren. Aufgrund der Vorschläge des NKR konnten diese im Laufe der folgenden Dekade circa zwölf Milliarden Euro einsparen – gut 25 Prozent des Gesamtvolumens, was in etwa auch den Vorgaben der Bundesregierung an den Normenkontrollrat entsprach.

Ludewig zeigt sich optimistisch, daß weitere Einsparungen möglich sind. Im Mittelpunkt sieht er hier die Pflicht der Bürger, in den zuständigen Behörden zu erscheinen. „Das Nutzungserlebnis im Umgang mit Verwaltungsdienstleistungen“, mahnt der NKR-Chef, sei entgegen dem allgemeinen Trend des digitalen Zeitalters auch „weiterhin geprägt durch Termine vor Ort und kaum integrierte Online-Dienstleistungen“. Von der Erfassung im Melderegister über das An- und Ummelden neuer Kraftfahrzeuge bis hin zur Beantragung staatlicher Zuschüsse, ermittelte das Fraunhofer-Institut in einer 2015 zum Thema „Bürokratieabbau durch Digitalisierung“ erschienenen Studie, sei noch immer das persönliche Erscheinen des betreffenden Antragstellers erforderlich. 

Diese personelle wie finanzielle Belastung der Städte und Gemeinden, aber auch die Zeitvergeudung der Bürger könnte jedoch grundsätzlich vermieden werden – nämlich simpel über die Digitalisierung der entsprechenden Prozesse.

Schlangestehen, so die Grundidee, war gestern. Eine eindeutige Identifizierung der online beantragenden Bürger könne heutzutage schon über die eID-Funktion des Personalausweises bewerkstelligt werden. Auch die Kosten für die digitale Umstellung hielten sich laut NKR-Angaben des mit knapp 1,7 Milliarden Euro für die nächsten fünf Jahre deutlich in Grenzen. Zum Vergleich: Für ihre derzeitigen IT-Systeme geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich über 13 Milliarden Euro aus.

Ein Blick nach Australien, das in der E-Government-Rangliste einen ordentlichen Sprung nach vorn machte, oder in Richtung Schweden zeigt, wie es auch in Deutschland funktionieren könnte: Frühzeitig haben die Skandinavier sich für das digitale Zeitalter entschieden. „3.000 E-Services biete der schwedische Staat mittlerweile seinen Bürgern an“, berichtete die Neue Zürcher Zeitung in einer Reportage, „fast jede Behörde verfügt über eine eigene App.“ Den Schweden sei es online nicht mehr nur möglich, an Wahlen teilzunehmen, ihr Auto umzumelden oder ihre Steuererklärung abzugeben – welche von der schwedischen Regierung übrigens bereits vorab berechnet wird und vom Steuerzahler per SMS lediglich noch bestätigt oder widersprochen gehört. „Bei den größeren Ämtern“, so die NZZ, könne der Bürger „mit wenigen Klicks“ sehen, welches seiner Anliegen wie weit in der Bearbeitung sei.

Von diesen schwedischen Zuständen ist Deutschland allerdings noch weit entfernt. Allein schon aus Datenschutzgründen: Zu tief und nicht immer nur unbegründet sitzt noch die Furcht in großen Teilen des Volkes, der Staat könne die privaten Daten des Einzelnen mißbrauchen, sich an der Erschaffung des „gläsernen Bürgers“ versuchen oder auch, wie im Herbst 2007 breit debattiert, Trojaner an behördliche E-Mails  hängen, um somit Onlinedurchsuchungen verdächtiger Personen zu erleichtern. „Stellen Sie sich vor, wir haben eGovernment und keiner macht mit“, warnte der damalige Bayerische Landesbeauftragte für Datenschutz, Karl Michael Betzl, vor dem Mißbrauch der Möglichkeiten des digitalen Staates durch diesen selbst.

Doch nicht nur das mangelnde Vertrauen vieler Deutscher in ihre Regierung erschwert letzterer die Vernetzung ihrer Institutionen zu fachübergreifenden Datenbanken und Onlineportalen. Auch die mangelnde Kooperation zwischen Bund und Ländern selbst sowie Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ministerien und Regierungsebenen verhindern bislang eine Digitalisierung der Nation hin zum effektiv wie kostengünstig arbeitenden virtuellen Dienstleister seiner Bürger.

Deutschland leidet unter einem Strukturdefizit 

„Wenn wir bei der Digitalisierung der staatlichen Verwaltung vorankommen wollen“, mahnt Ludewig, „müssen sich Bund und Länder verbindlich dazu verpflichten, gemeinsam Standards und Schnittstellen zu entwickeln, und zwar mit einem gemeinsamen Budget für die Digitalisierung.“ Was Deutschland benötige, erklärte der NKR-Vorsitzende, sei nichts Geringeres als ein für alle Beteiligten verbindlicher Staatsvertrag, „der noch bis zur Bundestagswahl auf den Weg gebracht werden muß“.

Die Bundesrepublik, hätten nicht zuletzt „die Probleme bei der Registrierung und der Verteilung von Asylbewerbern“ bewiesen, sei noch immer nur mangelhaft für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet. „Es geht hier nicht um die Portokasse“, mahnte Ludewig, sondern um ein „Strukturdefizit im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland“.