© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Im Fieber vereint
Island: Trotz des Ausscheidens bei der Fußball-Europameisterschaft feiert das ganze Volk seine Helden
Auðunn Arnórsson

Es war eine einmalige Achterbahn der Gefühle. Zum ersten Mal hat die Fußball-Nationalmannschaft von Island die Qualifikation fürs Endturnier der Europameisterschaft geschafft. Die Erwartungen waren jedoch gemäßigt. Das Fußballfieber stieg mit jedem Spiel. Als alle Erwartungen übertrumpft wurden und das Team in die 16er-Runde zog – und dort auf England traf, – hat kein noch so Sportdesinteressierter sich weigern können, mitzufiebern.

Mit dem Sieg gegen England im Achtelfinale ist ein lang gehegter Traum wahr geworden, und eine europaweite Sympathiewelle hat das Außenseiterteam mit Selbstbewußtsein beflügelt, als es vergangenen Sonntag gegen die Gastgeber im ausverkauften Stade de France in Paris im Viertelfinale spielte. Trotz mutigen Kampfes hat es aber nicht gereicht. Am Ende stand eine Fünf-zu-zwei-Niederlage. Aus der Traum.

Bei der Rückkehr nach Reykjavik am Montag dieser Woche wurden die Spieler nach dieser aus isländischer Sicht historischen Leistung von Zehntausenden als Helden gefeiert. In einem offenen Doppeldecker-Bus fuhr die Mannschaft durch die Straßen der Hauptstadt, begleitet von dem „Huh!“-Schlachtruf der Fans. „Ihr seid unser nationaler Schatz!“ rief der isländische Ministerpräsident Sigurdur Ingi Johannsson.

Der aufsehenerregende Erfolg der isländischen Nationalelf – und nicht weniger die positive und familiäre Stimmung, die ihre Fans in die französischen Stadions trugen – hat ganz Europa sich fragen lassen: Wie ist es möglich, daß ein 330.000 Seelen zählendes Volk, das auf einer kargen Insel am Polarkreis lebt, auf diese selbstbewußte Weise sich auf dieser Weltbühne geltend macht? 

Zuerst zu nennen ist die „Can do“-Attitüde, die seit der Besiedlung der Insel vor rund elfhundert Jahren durch Wikinger fürs Überleben dort unentbehrlich ist. Man muß eben tun, was getan werden muß; die schonungslosen Kräfte der Natur im nördlichen Inselklima haben dafür gesorgt, daß Island nie ein Land für Schlappschwänze gewesen ist. 

In einer kleinen Gesellschaft ist diese „Ja, ich kann“-Einstellung zum Leben sehr wichtig. In modernen Zeiten heißt das: Einer muß die Bücher schreiben, einer die Musik machen, einer Fußballer werden. Jeder einzelne zählt. In einer kleinen Gesellschaft ist es auch relativ einfach, bekannt zu werden. Wer fleißig „am Ball“ bleibt, gewinnt schnell Anerkennung – und kommt in die Nationalmannschaft.

Lebensmotto: „Das wird schon irgendwie klappen“

Dennoch: Zum Kleinvolkdasein gehört – man kommt nicht drum herum – eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn. Das gilt auch in Island. Die Isländer lieben Superlative und im Kreieren von „Per-capita“-Vergleichen sind sie längst Europameister: Sie haben die höchste Dichte an Literaturnobelpreisträgern (genau einer, Halldór Laxness, 1955), sie hatten das erste demokratisch vom Volk gewählte weibliche Staatsoberhaupt der Welt (Präsidentin Vigdís Finnbogadóttir 1980), und sie sind die kleinste Nation, die je an einer Fußball-Europameisterschaft teilgenommen hat. 

Im Frauenfußball spielen die Isländerinnen allerdings schon länger ganz vorne mit. Sie liegen derzeit auf dem 16. Platz der Fifa-Weltrangliste (die männliche Mannschaft liegt auf dem 34. Platz). Im nächsten Jahr nimmt die Frauen-Nationalmannschaft schon zum dritten Mal in Folge an einer Fußball-EM teil. 

Wie schon in den meisten anderen Ländern Europas ist Fußball der wahre Volkssport in Island. Besonders den letzten zwei Jahrzehnten ist viel in die Trainerausbildung und die Jugendarbeit investiert worden. Die überall gebauten riesigen Sporthallen ermöglichen den Spielern einen ganzjährigen Trainingsbetrieb. „Wir haben unsere Infrastruktur und die Ausbildung von Trainern und Spielern seit Mitte der Neunziger extrem professionalisiert“, zitiert die taz Geir Thorsteinsson, den Präsidenten des Isländischen Fußballverbandes.

Äußerst populär ist aber auch Handball. In dieser Sportart haben die Isländer viel erreicht. Bei den Olympischen Spielen in Peking (2008) gewannen die Männer die Silbermedaille. Und waren damit, klar, das kleinste Land, das sich jemals im Teamsport einen Treppchenplatz erarbeitet hat. Im Finale unterlagen sie nur den Franzosen. Bei der Gelegenheit hat die aus Israel stammende Frau des isländischen Präsidenten euphorisch vor Kameras erklärt: „Island ist kein kleines Land – es ist das grosseste Land der Welt!“ Dieser leichte Versprecher („Ísland er stórasta land í heimi“) wird seitdem gern als selbstironisch für den kleinvolktypischen Größenwahn beziehungsweise Minderwertigkeitskomplex der Isländer zitiert. 

Verwandt zur „Can do“-Attitüde ist das Lebensmotto der Isländer „Þetta reddast“, was sinngemäß heißt: „Das wird schon irgendwie klappen.“ Nach der Finanzkrise 2008 und zuletzt durch die Enthüllungen der „Panama Papers“ wurde dieser Optimismus zwar leidgeprüft. Aber die Isländer sind seit jeher Krisen gewohnt – wo jederzeit Vulkane ausbrechen können und volkswirtschaftliche Krisen wie Fischbestände kommen und gehen.

Geschlossenheit einer ganzen Nation

„Wir sind verdammt harte Arbeiter“, sagt der Chef des Isländischen Fußballverbandes Geir Þorsteinsson in einem Interview mit dem Spiegel. Wenn der gefangene Fisch auf den Kuttern im Hafen einlief, galt es ihn sofort zu verarbeiten. „Das hat sich in unsere Mentalität eingebrannt“, sagt Þorsteinsson. 

Es gibt also viele Erklärungen für den Erfolg. Eine darf hier jedoch nicht fehlen, und zwar der „Lars-Faktor“. Der Schwede Lars Lagerbäck – Nationaltrainer Schwedens 1998 bis 2009 – hat die isländische Mannschaft 2011 übernommen. Für sein Verdienst, Island in die EM zu führen (mit zwei Siegen gegen die Niederlande), wird er wie ein Nationalheld gefeiert.

Eine weitere These, um diesen märchenhaften EM-Erfolg der Isländer zu erklären, liegt nahe, die Geschlossenheit der ganzen Nation hinter der Nationalmannschaft hervorzuheben. Auch wenn sie klein ist – oder eher genau deshalb.

Jeder scheint jeden zu kennen

In Island hält die weitverzweigte Familie traditionell zusammen. Viele Isländer sind miteinander verwandt. Zumindest scheint jeder jeden zu kennen, oder wenigstens mal von ihm gehört zu haben. Das ist beileibe kein Klischee. So stehen auf den Rängen buchstäblich komplette Familien – Kinder, Eltern, Großeltern – vereint im Mitfiebern mit „ihren Jungs“ auf dem Spielfeld. Der Rest versammelt sich zum Public Viewing im Zentrum von Reykjavik oder vor dem Bildschirm zu Hause. Neue Rekordeinschaltquoten werden erreicht.

Im Stadion singen selbstverständlich alle die isländische Nationalhymne „Lofsöngur“(Lobgesang) mit und stimmen weitere Gesänge an, mit denen sie ihre Mannschaft beim Aufwärmen emotional aufputschen. Das rhythmische Klatschen und andere Rituale zur Stimmungmache und Anspornen „der Jungs“ werden choreographisch von Mitgliedern der Tólfan (eigentl. „Der zwölfte Mann“), der organisierten Fangemeinde der Nationalmannschaft, geleitet. 

Nach dem Spiel suchen die Isländer ebenso leidenschaftlich jeden noch so kleinen Bericht, in dem die Welt über sie berichtet und verbreiten ihn stolz in den sozialen Netzwerken. Nationalstolz ohne Hemmungen. 

Ein in Deutschland oft in den Netzwerken geteilter Kommentar nach dem verlorenen Viertelfinalspiel in Paris ist vielleicht bezeichnend: „Und ich hatte mich so auf die Islandisierung des Abendlandes gefreut.“ Huh!