© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Der Evensong der Kathedrale von Canterbury ist ein liturgisches Abendgebet in der Tradition der anglikanischen Kirche. Also festgefügter Ausdruck dessen, was man spezifisch englisch nennen kann. Dasselbe gilt für den Aufwand, mit dem in diesen Tagen des hundertsten Jahrestags der Schlacht an der Somme – des schlimmsten Aderlasses der britischen Truppen im Ersten Weltkrieg – gedacht wird. Man kommt durch keine Stadt, die nicht irgendwie an die Opfer des „Großen Krieges“ erinnert. So auch Canterbury. Der Gottesdienst beginnt also mit dem Gedenken der Gefallenen, vor allem derer, die ihr Leben für ihre Kameraden gaben. Vom Gegner ist keine Rede, nur zum Schluß heißt es, daß die Briten 1916 „für die Freiheit gefochten haben“, und dann folgt die Lesung aus Offenbarung 12: „Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen.“

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„Hinter jedem Reichen steht ein Teufel, und hinter jedem Armen – zwei.“ (Schweizerisches Sprichwort)

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Sir Richard Dearlove, vormals Chef des britischen Geheimdienstes MI6, hat in einer Sendung der BBC erklärt, daß Europa eine „populistische Revolte“ drohe, falls es den Regierungen nicht gelinge, die Masseneinwanderung zu stoppen. Den Versuch, das Problem durch ein Abkommen mit Ankara und die Gewährung von Reisefreiheit für türkische Bürger zu lösen, betrachtet Dearlove als untauglich. Dergleichen erinnere an die Lagerung von Benzin neben einem offenen Feuer.

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Man findet vor dem Einzelhandelsgeschäft seines Vertrauens in den Sommermonaten ausnahmsweise und ohne Probleme einen Parkplatz und fragt sich: Was spricht gegen Bevölkerungsrückgang?

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Nachdem als Schuldige am Ausgang der Volksabstimmung zum Brexit oft genug die üblichen Verdächtigen dingfest gemacht wurden – Modernisierungsverlierer und sonstwie Abgehängte, Alte, Dumme, Rassisten, Nationalisten, Faschos etc. – kommen ab und zu ein paar erhellende Überlegungen. Die erkennen doch ein gewisses Maß an Rationalität im Tun der britischen Mehrheit: Unmut über die Alleingänge Merkels, Sorge angesichts der Migrationsdauerkrise, Widerwille gegen die Arroganz Brüssels. Am Rande dämmert sogar, daß das Votum der Arbeiterklasse für ein „Out“ zu tun haben könnte mit dem Verrat von Labour an seiner eigenen Klientel und der Begeisterung der Kaviarlinken, wenn schon nicht für die EU, dann doch für das bunte „cool Britannia“, in dem die Weißen nur mehr eine aussterbende Spezies sind.

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Aus dem Wörterbuch des Neumenschen: „Othering“, ein von dem indischen Soziologen Gayatri Chakravorty Spivak in Umlauf gebrachter Terminus, der die Wahrnehmung des Anderen als anders bezeichnet und trefflich als „VerAnderung“ ins Deutsche übersetzt werden kann.

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Man hat bei der Analyse des Referendums auch darauf hingewiesen, daß das kein gesamtbritisches Votum gewesen sei: Abgesehen von Wales stimmten die anderen Teile des Vereinigten Königreichs mehrheitlich für den Verbleib in der EU. Man darf das als Wirkung einer sonst wenig beachteten politischen Unterströmung ansehen, die nicht erst im Gefolge der Regionalisierung Großbritanniens, der Einrichtung von selbständigen Parlamenten in Belfast, Cardiff und Edinburgh und der Übertragung von Sonderrechten, entstand. Es geht dabei um einen spezifisch englischen – nicht: britischen – Nationalismus, gespeist aus dem Widerwillen des ehemaligen Reichsvolks, das sich zurückgesetzt fühlt, weil es nur noch in Westminster vertreten wird. Was angesichts seiner Dominanz in der Vergangenheit eine gewisse Plausibilität besaß, hat sie längst eingebüßt.

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Der Gebrauch des Begriffs „Biologismus“ sollte für mindestens dreißig Jahre unter Strafe stehen.

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Natürlich jubeln die Anhänger des „Europas der 100 Fahnen“ (der Regionalist Yann Fouéré) angesichts des schottischen Unmuts über den Brexit, in der Hoffnung, daß demnächst die Republik Alba Wirklichkeit wird. Aber gegen diese „Balkanisierung für jedermann“ (der Nationalrevolutionär Henning Eichberg) gibt es wohlbegründete Vorbehalte derer, die auch solchen Abstraktionen mißtrauen und angesichts der weltpolitischen Lage eher für das Prinzip „Krieg den Hütten, Friede den Palästen“ (der Konservative Armin Mohler) eintreten. Vielleicht genügt aber schon der Hinweis, man sollte „Europa … einigen, bevor es von Nicht-Europa verschlungen wird“ (der Reaktionär J. R. R. Tolkien).