© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

La France? C’est fini
Frankreich: Nach 40 Jahren des Niedergangs dämmert die große Nation vor sich hin
Markus Brandstetter

In Marcel Prousts siebenbändigem Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gibt es eine Stelle, in der der Erzähler als Kind den Zug der Equipagen und Wagen von Paris in den Bois de Boulogne hinaus mitverfolgt, die Toiletten der Damen bestaunt, ihre Kleider aus Crêpe de Chine, die Hüte mit den Straußenfedern und Reiheragraffen, ihre weiß behandschuhten Hände mit den sich drehenden Parasols, die Kutscher mit ihren Pferden und die den Damen folgenden Windhunde beobachtet und über alles auf der Welt bewundert.

Nirgendwo auf der Welt, denkt sich der Erzähler, gibt es Frauen von solcher Schönheit, Männer von solchem Reichtum und eine Gesellschaft von solcher Eleganz. Paris, hat der deutsche Philosoph Walter Benjamin einmal gesagt, war die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und damit das, was Wien im 18. gewesen war und New York im 20. Jahrhundert werden sollte: die Stadt, in der Kunst und Kultur, aber auch Wissenschaft und Technik blühten wie nirgendwo sonst.

Davon ist heute nicht mehr viel zu merken. Gewiß, die großartigen Gebäude, die ein gnädiges Schicksal vor der Zerstörung im Krieg bewahrt hat, stehen noch alle, die Avenue Foch, die breiteste Prachtstraße Europas, einst die Adresse der Rothschilds, von Claude Debussy, Arthur Rubinstein und Gunter Sachs, existiert nach wie vor, aber die Parkanlagen sind verwahrlost, und Anne Hidalgo, die linke Bürgermeisterin von Paris, die ein Funktionärsleben in den sozialistischen Hinterzimmern der Macht verbracht hat, will nicht weit davon eine Flüchtlingskolonie installieren – einzig aus dem Grund, den wohlhabenden Bewohnern des 16. Arrondissements endlich mal eine vor den Latz zu knallen.

Mitarbeiter in Museen sind gern im Bummelstreik

Genauso traurig ist die Situation der Pariser Museen. In Paris hängt und steht die Hälfte aller berühmten Gemälde, Statuen und Plastiken auf der ganzen Welt, aber wie der französische Staat damit umgeht, ist ein Skandal. Das Musée Picasso im angesagten Marais-Viertel, in dem ein Drittel aller Werke Picassos hängt, wurde erst sechs Jahre lang renoviert, aber von den 100.000 Werken, über die das Museum verfügt, ist nur ein Prozent zu sehen, weil man trotz enormer Räume angeblich nie genug Platz und Personal hat, obwohl doch jede Menge Mitarbeiter immer Zeit für ein Schwätzchen, eine verlängerte Mittagspause oder ab und zu auch mal für einen Bummelstreik hat.

Nicht anders ist die Situation im Musée Rodin, wo die weltbekannte Plastik des Penseurs (Denkers) im Garten steht. Da wurde auch jahrelang renoviert, ebenfalls ohne großartige Veränderungen, und auch hier ist ein Regiment von arroganten Staatsangestellten tätig, die zwar keine Fremdsprachen sprechen, dafür aber jedem Streikaufruf ganz egal welcher Gewerkschaft stets fröhlich folgen. 

Fall drei: das Musée Carnavalet, das, ebenfalls im Marais, nur ein paar Schritte von der Place des Vosges liegt, Paris’ ältestem und schönsten Platz. Der Name des Museums leitet sich von der Adelsfamilie, die das Gebäude einst gebaut hat ab, führt aber in die Irre, denn hier haben wir es mit dem Museum der Pariser Stadtgeschichte zu tun, in dem Marcel Prousts mit Korkplatten verkleidetes Sterbezimmer, das bekannteste Jugendbild Franz Liszts und François Gérards weltbekanntes Bild der schönen Madame Récamier ausgestellt sind.

Obwohl das Museum von Mitarbeitern nur so wimmelt, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht mindestens einer der Flügel angeblich wegen Personalmangels geschlossen wäre. An keinem anderen Museum merkt man so wie diesem, was der französische Staatsdienst in Wahrheit ist: eine Beschäftigungsmaschine für Minderqualifizierte, die man in diesem Fall von der Straße ins Museum geholt hat mit dem Gedanken: ist doch egal, wird schon keiner merken, ist ja nur ein Museum.

Polizisten gelten als Hampelmänner

Frankreich ist das europäische Land mit den meisten Beamten: 5,6 Millionen sind es, 25 Prozent der Franzosen arbeiten beim Staat, in Deutschland sind es nicht einmal 14 Prozent. Viele Fonctionnaires, wie die Franzosen ihre Staatsdiener treffend nennen, sind mittelmäßig ausgebildet, aber bestens bezahlt, selbstverständlich unkündbar und Bezieher fetter Renten. Trotzdem wird ihnen von der jungen Generation null Respekt entgegengebracht, was vor drei Wochen zu beobachten war, als vier jugendliche Demonstration mitten in Paris und unter dem Beifall von Passanten einen Polizeiwagen mit Leuchtraketen abfackelten und die beiden darin sitzenden Beamten fast umgebracht hätten. Unsagbar traurig, wie einer der Polizisten, ein schwarzer Hüne, augenscheinlich mit Kampfsporterfahrung, sich heldenhaft vor den dauernden Schlägen seiner Gegner wegduckte, ohne sich jedoch wehren zu dürfen, weil dies den Flics inzwischen verboten ist.

Daß die vier Randalierer nach Feststellung ihrer Personalien noch am selben Tag wieder freigelassen wurden, wird nur den erstaunen, der nicht weiß, daß Frankreich seit der Ära Mitterrand zu einem Staat geworden ist, in dem Polizisten als Hampelmänner gelten, Recht und Gesetz Auslegungssache ist und Casseurs (Randalierer), Gewerkschafter und Demonstranten die heiligsten aller heiligen Kühe darstellen. 

Die Grundlage für die ganze Misere ist die: Die Franzosen arbeiten so wenig wie sonst kein Volk in der EU und haben die starrsten Arbeitsgesetze überhaupt. Der Code du Travail, das französische Arbeitsgesetzbuch, hat 3.900 Seiten, wiegt drei Kilo und regelt alles von der Größe der Betriebstoilette bis zur Wattzahl der Glühbirnen im Umkleideraum.

Die Hauptaussage dieses Meisterwerks besteht darin, daß praktisch kein Arbeiter oder Angestellter entlassen werden darf – egal, wie schlecht er arbeitet. Das hat zu einer seit Jahren anhaltenden Massenarbeitslosigkeit geführt: Zehn Prozent aller Franzosen und ein Viertel der Jugendlichen sind arbeitslos – glorreiches Resultat einer sturen Gewerkschaftspolitik, die Frankreich Stillstand, Frustration und eine hohe Staatsverschuldung eingebracht hat.

Das Haupt der Gewerkschaften ist Philippe Martinez, der Chef der französischen Gewerkschaftsbundes Confédération générale du travail (CGT), ein überzeugter Kommunist, der nicht einmal drei Prozent der Franzosen vertritt, aber die Regierung seit Wochen vor sich hertreibt wie Attila die Römer.

Dieser kräftige, kleine Mann mit dem dicken Schnäuzer wird die von der Regierung Hollande versuchte Flexibilisierung der Arbeitsgesetze wohl zu Fall bringen, obwohl die Mehrheit der Franzosen inzwischen ein Ende der Dauerstreiks und Nachtwachen (Nuit debout) auf der Place de la République verlangt und eine Lockerung des Kündigungsschutzes begrüßt. Gewerkschaften und Linken jedoch ist das vollkommen egal – hier geht es nur um Macht.

In der Bel Époque an der Spitze der Welt

Man kann es leider nicht anders sagen: Mit Frankreich geht es seit Jahrzehnten abwärts. Noch in den 1970er Jahren war das ein Land, in dem flotte Kleinwagen produziert, weltweit bewunderte Medizin- und Militärtechnologie hergestellt und witzige, anrührende und toll geschauspielerte Filme gedreht wurden. Es war auch das Land, in dem die Hälfte aller modernen und wichtigen Philosophen zu Hause war. Und zur Zeit Marcel Prousts, während der Bel Époque (1880–1914), stand Frankreich in Malerei (Cézanne, van Gogh, Picasso) und Bildhauerei (Rodin) sowieso, aber auch in Musik (Debussy, Ravel), Literatur (Zola, Proust), Architektur, Soziologie, Medizin, Biochemie (Pasteur) und Physik (Curie) an der Spitze der Welt.

Von dieser glanzvollen Vergangenheit künden heute nur noch die Parks, Schlösser, Kirchen, Kathedralen und die Häuser von Paris und die Exponate seiner Museen – aber ansonsten hat die Grande Nation ihre Pracht und ihren Glanz fast vollständig verloren.