© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Die entdramatisierte Stadt
Eberhard Straub hat ein Buch zur Krise der urbanen Lebensform verfaßt
Sebastian Hennig

In einem Buch über „Das Drama der Stadt“ schildert Eberhard Straub die Wesenszüge der europäischen Großstadt von der Antike bis heute. Bereits im Untertitel benennt er „Die Krise der urbanen Lebensformen“. Diese Formen ergaben sich sonst im Abgleich schroffster Gegensätze. Émile Zola hat die großen Städte einmal als „holocaustes d’humanité“ bezeichnet. In Friedrich Wilhelm Murnaus Verfilmung von Heinrich Sudermanns „Die Reise nach Tilsit“ von 1927 gibt es eine Einstellung, in der die Fischer vom Land unbefangen inmitten des chaotischen Straßenverkehrs verweilen. Von allen Seiten rasen die Automobile auf sie zu. Nirgends ist ein Verkehrszeichen oder eine Ampel zu erblicken. Gerade diese expoldierende Situation läßt diese provinziellen Menschen unbeschadet zu sich selber und zueinander finden. Auf die Probe gestellt, nehmen sie erst ihre Zugehörigkeit wahr und werden Bestandteil des großstädtischen Lebens, ohne ihre ländliche Herkunft zu verleugnen. Heute wird das umgekehrte Verhältnis angestrebt. Ein verzagtes Regelwerk löst jenes stabile Chaos des Mit- und Gegeneinander ab, wodurch die großen Städte seit jeher atmeten. Das gefährliche Probierfeld der Konzentration des Menschlichen, ist zu einem Labor zur Zügelung jeder Lebensregung geworden. Übereinkünfte ergeben sich nicht mehr fallweise aus dem Aufeinanderprallen von Tatsachen.

 „Organisierte Lebensfreude aus Angst vor Unordnung“

Straub beschreibt die Stadt als ein Modell für die Welt. Sie ist der Ort, an dem der Mensch selbst zum Naturereignis wird und die Schönheit seiner Natur in der urbanen Kultivierung zutage tritt. Sie war immer ein Quell der Unruhe und der schöpferischen Lust. Damit die kreativen Überbietungswettbewerbe einzelner die Städte verschönern, war ein Mindestmaß an Freiheit ihrer Bewohner erforderlich. Die Wirklichkeit nötigte ihnen ohnedies Kompromisse ab.

Der Autor hat seine Sittengeschichte des Stadtlebens aus zahlreichen anregenden Beobachtungen und Gedanken geflochten. Dadurch ist sein Buch weniger eine Enzyklopädie als vielmehr eine polemische Plauderei, der sich mit viel Gewinn folgen läßt. Der gegenwärtigen Verschlüsselung der Verhältnisse stellt er die unverhüllte Gebärde früherer Herrscher gegenüber: „Sie errichteten massive, steinerne, eindeutig brutale Türme, wohingegen die zeitgenössischen Euro-payer mit Glas und Stahl Leichtigkeit und Helle vortäuschen.“ Die transparente Maske einer scheinbaren Offenheit wird ergänzt um die Ausprägung von Stadtfragmenten zur Handelsmarke. 

Erich Honeckers Berliner „Nikolaiviertel“ von 1987 wird als Beispiel für solche Kulissen erwähnt, mit denen überall schicksalsfreie Einkaufs- und Freizeitflächen eine kulturgeschichtliche Verbrämung erhalten. „Idyllogen“ und „verängstigte Bürger“ ersetzen das Fest des Lebens mit einer Abfolge perfekt organisierter Parties in einer schicksalsfreien Zone. Die Parks wandeln sich zu Großraumbüros und Sportplätzen. Der öffentliche Raum wird vermietet. Für die Erniedrigten und Beleidigten ist darin kein Platz mehr vorgesehen. In der Absicht der Schmerz- und Konfliktvermeidung wird die Lebenskraft selbst ausgebremst. 

Die Teilnehmer am Schauspiel des Stadtlebens sollen sich nun einer Dramaturgie fügen. Das Zusammenleben muß gesund und bekömmlich für jedermann bleiben. Die Träume der jungen Kreativen und Erfolgreichen sollen von der Lebenswirklichkeit nicht behelligt werden. Das Maß des Zuträglichen ist genau geregelt. Schließlich sind auch kleine Kinder anwesend, denen man nicht laufend die Augen zuhalten kann. „Organisierte Lebensfreude aus Angst vor Unordnung“ nennt Straub die Umwandlung des Abenteuers Stadt in einen zertifizierten Abenteuerspielplatz mit doppeltem Netz, wo Zugangsregulierung über eine neue soziale Auslese funktioniert.

Am Gegensatz von Stadt und Land ist vieles nur eingebildet. Beide Lebensformen bleiben aufeinander bezogen. Mit der Verknüpfung reißt der Mangel des einen das andere mit in den Verlust. Zufällige Stadtbewohner sollten sich aufgerufen fühlen, sich als reine Städter zu erkennen und zu bekennen.

Nach Strich und Faden macht Straub sich lustig über das mangelnde Zutrauen in die Selbstheilungskräfte der menschlichen Gemeinschaft und läßt sein Buch in die Feststellung einmünden: „Wer bei der Aufforderung eines hellen Berliners: ‘Hau Dir selber’ n paar in die Fresse, ick hab’ keene Zeit’ erschrickt, sollte lieber in die Vorstadt ziehen oder draußen auf dem Lande als Biobauer den Einklang mit der Natur suchen, anstatt den Großstädter das Fürchten zu lehren.“

Eberhard Straub: Das Drama der Stadt. Die Krise der urbanen Lebensformen. Nicolai Verlag, Berlin 2015, broschiert, 208 Seiten, 19,95 Euro