© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

„Bewahrung der nationalen Existenz“
Die Erhebung vom 20. Juli 1944 ist bis heute Anfeindungen aus allen Richtungen ausgesetzt. Peter Hoffmann widerspricht diesen – der berühmte Stauffenberg-Biograph gilt als führender Historiker der Widerstandsforschung
Moritz Schwarz

Herr Professor Hoffmann, warum war die Erhebung vom 20. Juli 1944 trotz ihres Scheiterns so wichtig?

Peter Hoffmann: Weil sie ein anderes Deutschland als das der Nazis dokumentiert. Siebenhundert hohe Militärs, Minister, Ministerialbeamte, Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommunalpolitiker, angesehene Bürger wurden allein im Zusammenhang mit dem 20. Juli verhaftet, dazu rund fünftausend politisch Unzuverlässige, Tausende andere waren schon in den Konzentrationslagern umgebracht worden. Hitlers Behauptung von einer „ganz kleinen Clique“ war falsch. Dieses Ausmaß hätte man später nicht geglaubt, seine Kenntnis haben wir der Explosion von Stauffenbergs Sprengstoff und der Gestapo zu verdanken, die das Ausmaß offenlegte.

War der 20. Juli nicht antidemokratisch und wollte lediglich eine Militärdiktatur? 

Hoffmann: Im Gegenteil. Auf Verlangen des präsumtiven Staatsoberhauptes, Generaloberst Ludwig Beck, war für jeden Wehrkreis des Reiches neben einem militärischen ein politischer Beauftragter benannt. Sie wollten keine Militärdiktatur, zumindest nicht länger als ein paar Tage, sondern raschen Übergang zu ziviler Verwaltung. Für das Amt des Reichskanzlers hatte man den Politiker Carl Goerdeler vorgesehen, also einen Zivilisten. Reichstagswahlen sollten stattfinden, nachdem die Soldaten heimgekehrt wären, die auch wählen sollten. Ein demokratischer Schritt, denn in der Weimarer Republik und in der Hitler-Diktatur durften sie nicht wählen. 

Schien die Demokratie nicht desavouiert? Schließlich hatte sie zu Hitler geführt.

Hoffmann: So hat man es gesehen. Selbst die beteiligten Sozialdemokraten wollten nicht einfach das Weimarer System wieder einführen. Helmuth James Graf von Moltke und Carl Goerdeler, die wichtigsten Programmentwickler des Widerstandes, wollten – in sonst unterschiedlichen Entwürfen – den Reichstag nur zur Hälfte durch allgemeine Wahlen bestimmen lassen, die andere Hälfte sollten Delegierte der Kommunen und Länder sein. Im Gegensatz zu Goerdeler sah Moltke in seinen Entwürfen kein Wahlrecht für Frauen vor.  

Aber Moltke gilt heute als das kosmopolitische und „antinational“ gesonnene Pendant zum „Nationalisten“ Stauffenberg.   

Hoffmann: Oder zum „deutschnationalen“ Goerdeler. Die Öffentlichkeit kennt Klischees. Die Dinge sind komplizierter. Wie Sie Moltke skizziert haben, ist zwar nicht falsch, aber hier der „liberale“ Moltke, dort der „reaktionäre“ Stauffenberg, das ist eine verzerrende Simplifizierung. Sicher war Stauffenberg kein „Demokrat“ im heutigen Sinne. Als Berufssoldat lebte er in einer Meritokratie, die Leistung bestimmte Stellung und Rang. Er war auch bewußt und ungeniert Aristokrat, mit einer geistigen Betonung, nicht im Sinne gesellschaftlicher Privilegierung. Er war gegen Goerdeler als Kanzler und meinte gegenüber dem Gewerkschafter Wilhelm Leuschner, ein Arbeiterführer sollte die Führung übernehmen. Die Sozialdemokraten wollten das Vielparteiensystem nicht wiederhaben, sondern eine überparteiliche Volksbewegung. Kurz: Die Frage, ob diese Männer Demokraten im Sinne der heutigen Bundesrepublik waren, in der Demagogen wie Hitler seit siebzig Jahren keine Chancen haben, ist unsinnig und ahistorisch.

Warum werden Vorwürfe dieser Art dann immer wieder laut, auch von Historikern? 

Hoffmann: Ich frage mich manchmal auch, was diese Leute treibt. Der renommierte Historiker Johannes Hürter warf in einem wissenschaftlichen Aufsatz einem der Köpfe des deutschen Widerstandes, dem damaligen Oberst Henning von Tresckow, ernstlich vor, er habe 1941 seinen Protest und seine Interventionen gegen den Kommissarbefehl und die Judenerschießungen nicht in einem dienstlichen Schriftstück niedergelegt. So etwas von einem Kenner der Hitler-Diktatur – das ist mir unbegreiflich! Dabei erkannte Hürter in einem Buch Tresckows moralische Motive an.  

Das führt zu einem weiteren populären Vorwurf: Das Schicksal der Juden sei dem 20. Juli gleichgültig gewesen. 

Hoffmann: Wieder ist das Gegenteil richtig. Oberst von Tresckow setzte seinen Oberbefehlshaber, den Generalfeldmarschall Fedor von Bock, unter Druck, er müsse gegen die Mordbefehle und gegen den Kommissarbefehl zusammen mit Generalfeldmarschall von Rundstedt und Generalfeldmarschall von Leeb zu Hitler fliegen und protestieren. Bock schickte schließlich Major i.G. Freiherr von Gersdorff, den Feindnachrichten-Offizier seines Stabes, nach Berlin, der dort nichts ausrichtete, worauf Bock erklärte: „Meine Herren, Sie sehen, ich habe protestiert.“ An einem Sommerabend im August am Ufer der Beresina sagte Tresckow dem persönlichen Adjutanten des Oberbefehlshabers, Major der Reserve Carl-Hans Graf von Hardenberg, alle Bemühungen, die Führung zum Widerstand gegen „befohlene Verbrechen und militärischen Wahnsinn“ zu bewegen, seien umsonst gewesen; sie müßten darangehen, Hitler zu stürzen.  Tresckow ließ am 9. Dezember 1941 auch folgenden Bericht Gersdorffs ins Kriegstagebuch der Heeresgruppe eintragen: „Bei allen längeren Gesprächen mit Offizieren wurde ich, ohne darauf hingedeutet zu haben, nach den Judenerschießungen gefragt. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Erschießungen der Juden, der Gefangenen und auch der Kommissare fast allgemein im Offizierkorps abgelehnt wird [sic], die Erschießung der Kommissare vor allem auch deswegen, weil dadurch der Feindwiderstand besonders gestärkt wird. Die Erschießungen werden als eine Verletzung der Ehre der deutschen Armee, in Sonderheit des deutschen Offizierkorps, betrachtet. Je nach Temperament und Veranlagung der Betreffenden wurde in mehr oder weniger starker Form die Frage der Verantwortung hierfür zur Sprache gebracht. Es ist hierzu festzustellen, daß die vorhandenen Tatsachen in vollem Umfang bekannt geworden sind und daß im Offizierkorps der Front weit mehr darüber gesprochen wird, als anzunehmen war.“

Ein anderes Beispiel ist Carl Goerdeler, über den Sie Ihr jüngstes Buch geschrieben haben.

Hoffmann: Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig und zunächst unter Hitler Reichskommissar für Preisüberwachung, drang ständig darauf, daß die Judenverfolgung aufhöre. Selbst die Gestapo stellte nach dem 20. Juli fest: „Die innere Fremdheit, die die Männer des reaktionären Verschwörerkreises gegenüber den Ideen des Nationalsozialismus kennzeichnete, kommt vor allem in der Stellung zur Judenfrage zum Ausdruck. Die [...] unermüdliche Aufklärungsarbeit der NSDAP über die Judenfrage ist an diesem Kreis spurlos vorübergegangen. Trotz allem [...] stehen sie stur auf dem Standpunkt des liberalen Denkens, das den Juden grundsätzlich die gleiche Stellung zuerkennen will wie jedem Deutschen.“ Stauffenberg äußerte (gegenüber Generalleutnant Friedrich-Wilhelm von Loeper) zum erstenmal im Zusammenhang mit den Judenverfolgungen, daß Hitler getötet werden müsse – im April 1942. Dann erneut im Mai. Erst für den Juli 1942 ist seine Aussage belegt, daß Hitlers Strategie im Osten – zugleich in den Kaukasus und auf Stalingrad vorzustoßen, obwohl die Kräfte nicht einmal für eine der beiden Operationen reichten – „Verrat am Heer“ sei. Also: Nach Lage der Quellen war das Motiv der Judenrettung zuerst da.

Aber war die Rettung des Reiches nicht ebenso ein Hauptmotiv?

Hoffmann: Gewiß, ein ehrenwertes.  

Was ist dann davon zu halten, daß es im offiziellen Gedenken immer nur um Gewissen, „Zivilcourage“ und NS-Verbrechen geht – alles bedeutende Elemente –, nie aber reflektiert wird, daß der 20. Juli ebenso die Erhaltung der Deutschen als Nation, Gemeinschaft und Reich zum Ziel hatte?

Hoffmann: Das Gewissen forderte auch die Rettung des Volkes und seiner nationalen Existenz. Man wagt oft nicht, sich dazu zu bekennen. 

Ist es legitim zu fragen, wo die Männer des 20. Juli politisch stünden? 

Hoffmann: Das aus historischen Quellen ableiten zu wollen, ist fragwürdig, weil auch diese Männer sich in den letzten Jahrzehnten verändert hätten. 

Aber ist nicht anzunehmen, daß die nationalen Ziele des 20. Juli auch heute gelten würden? In Interviews dieser Zeitung mit den damals letzten noch lebenden Teilnehmern des Widerstandes, Ewald-Heinrich von Kleist und Philipp von Boeselager, brachten beide ihr „großes Attachement an Volk und Land“ (Kleist) zum Ausdruck.  

Hoffmann: Da haben Sie eine Antwort – besser als ich sie geben könnte. Und, wie gesagt, aller Ehre wert.

Läßt sich aus Stauffenbergs „Schwur“ ein „politisches Programm“ herauslesen?

Hoffmann: Stauffenberg war kein Politiker. Was er persönlich wollte, steht dort in der Tat ziemlich genau. Die Grundsätze dieses internen Manifests sollten nach der Besetzung des Reiches durch den Feind, womit Stauffenberg rechnete, dem Kreis der Freunde den Zusammenhalt bewahren helfen. Sie wären nicht veröffentlicht worden. Ich empfehle, sie ohne Vorurteile zu lesen. Jeder Satz bedarf unvoreingenommener Überlegung. Natürlich kann man Bedeutungen hineinlesen, besonders, wenn man sich einbildet, die Sätze seien heute, 2012 oder 1998 geschrieben worden. 

Stauffenbergs „Schwur“ dokumentieren wir vollständig im Wortlaut auf Seite 19. Verkündete man diese Sätze heute öffentlich, ohne die Quelle zu benennen, würde man dann nicht als „rechtsradikal“ gelten?

Hoffmann: Hoffentlich nicht. Zweifellos hätte es, wären die Sätze nach dem Tod Stauffenbergs und vieler seiner Freunde gegen ihre Absicht veröffentlicht worden, dafür lange keine Zustimmung gegeben. Allerdings ist Deutschland heute die führende Macht in Eu-ropa – nicht nur wirtschaftlich. Lese ich die Leitartikel der Zeitungen – nicht nur der FAZ und bis hin zur NZZ –, lese ich, Deutschland müsse diese Führungsverantwortung wahrnehmen. Das sind Töne, die es lange nicht gab. 

Oft werden 20. Juli und Frontsoldaten in Gegensatz zueinander gebracht. Zu Recht?

Hoffmann: Nein, Stauffenberg und die anderen Offiziere des 20. Juli taten ihre Pflicht an der Front, in den Stäben, Stauffenberg wurde als Führungsoffizier der 10. Panzer-Division in Tunesien schwer verwundet; Tresckow setzte im Sommer 1943 alle Energie und militärische Kompetenz an die Planung der „Kursk-Offensive“ – sie alle handelten wie die Offiziere und Soldaten der Westfront im Oktober und November 1918, nach dem deutschen Waffenstillstandsgesuch, sie kämpften und starben, um den geordneten Rückzug zu sichern und den Feind vom Reich fernzuhalten.  

Erstaunlicherweise gibt es ausgerechnet in dieser Hinsicht eine Kontinuität zwischen der Erlebnis- und der heutigen Generation: Beide sehen den gleichen – angeblichen – Dualismus: entweder Widerstand oder weiterkämpfen. Nur daß die Erlebnisgeneration den Widerstand, die heutige dagegen das Weiterkämpfen für unmoralisch hält. Beide aber eint die Vorstellung, es könne nur ein Entweder-Oder geben.

Hoffmann: Ein begreifliches Mißverständnis des tragischen Widerspruchs zwischen Pflichtbegriffen. Auch die Verschwörer kämpften, während sie für das Ende eines Kampfes arbeiteten, der sie zu Komplizen machte. Ohne das eine – den mit Komplizenschaft verbundenen Zugang zu militärischen Machtmitteln und zur Person Hitlers – auf sich zu nehmen, konnten sie das andere – den Kampf gegen die Verbrecher – nicht tun. Und andererseits: Wenn um einen herum gelitten, gestorben und getötet wird, man selbst ständig in Lebensgefahr ist, werden eben viele abgestumpft gegenüber moralischen Fragen, wie wir Nachgeborenen uns sie leisten können. Und schließlich ist der Gedanke, den Feind von der Heimat fernzuhalten, nicht einfach verächtlich. Von der jüngeren Generation könnte man mehr Einsicht erwarten. Ihre Moral ist nicht humanistisch, wie sie es sich wohl einbildet, sondern auf eigene Weise unmenschlich, eine Form des Nicht-Denkens.  

Wenn die Offiziere des 20. Juli dezidiert als Soldaten der Wehrmacht gehandelt haben, wie paßt dann zusammen, daß die Bundeswehr den 20. Juli als traditionswürdig erklärt, nicht aber die Wehrmacht?

Hoffmann: Da ist ein Denkfehler. Aber der Grund ist die massive Verwicklung der Wehrmacht in die NS-Verbrechen.

Die große Mehrzahl der Wehrmachtsoldaten war allerdings nicht aktiv und direkt an Mordtaten beteiligt. Gilt also für sie eine Kollektivschuld, die man für das deutsche Volk zumindest offiziell ablehnt?

Hoffmann: Nein, das ist eine polemische Konstruktion, die unserem Rechtsverständnis der individuellen Verantwortung widerspricht. Aber ich bin Historiker, nicht Politiker. Ich kann Ihnen nur erklären, soweit die überlieferten Quellen es erlauben, wie die Dinge sind, nicht bestimmen, wie sie vielleicht sein sollten.






Prof. Dr. Peter Hoffmann, ist der führende Historiker auf dem Gebiet des deutschen Widerstandes um den 20. Juli 1944. Seine Studie „Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler“ (1969) gilt als Standardwerk und sein Opus „Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder“ (1992) als die Stauffenberg-Biographie schlechthin. Inzwischen liegt die 2007 vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe in dritter Auflage unter dem Titel „Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie“ (Pantheon, München 2009) vor.

Der gebürtige Dresdener, Jahrgang 1930, aufgewachsen in Stuttgart, lehrte 1965 bis 1970 in den USA und hat seit 1970 den für ihn gegründeten Lehrstuhl für Deutsche Geschichte an der McGill University in Montreal in Kanada inne. Sein jüngstes Buch zum Thema Widerstand erschien 2013 im Böhlau-Verlag: „Carl Goerdeler. Gegen die Verfolgung der Juden“.

Foto: Peter Hoffmann: „Sie kämpften und starben wie Offiziere (...) Ihr Gewissen gebot auch die Rettung des eigenen Volkes. Ein ehrenwertes Motiv (...) Man wagt oft nicht, sich dazu zu bekennen.“