© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Königskinder begehren andere Kleinodien als die Masse
Er verachtete seine Zeit: Zur Erinnerung an den französischen Diplomaten und Schriftsteller Arthur de Gobineau anläßlich seines 200. Geburtstages
Eberhard Straub

Ich bin das Reich am Ende mählichen Verfalls.“ So beginnt Verlaine, ein Dichter der französischen Décadence während des Fin de siècle, sein Sonnet auf das verdämmernde kaiserliche Rom. Im Hintergrund schweifen weiße Barbaren. Es gibt Gerüchte über heftige Kämpfe in gar nicht so fernen Tälern. Letzte Römer voller Müdigkeit schreiben ein paar letzte Verse. Sie wollen nichts mehr, sie warten auf das Ende. Alles ist gesagt, alles ist verzehrt, jeder Kelch geleert, nur ein unbestimmter Überdruß erinnert an Regungen schon fast erloschenen Lebens.

Verlaine poetisierte die  Untergangsstimmungen einer bürgerlichen Welt.  Eine Generation früher litt Arthur de Gobineau, vor zweihundert Jahren am 14. Juli 1816 geboren, daran, Zeuge der letzten Tage der Menschheit zu sein, ihrer Götterdämmerung, die sein später  Freund und Altersgenosse Richard Wagner in mythisch-dramatischen Bildern zum großen Welttheater machte.

Er fühlte Frankreich durch die Geschichte widerlegt

Die Niederlage Napoleons und die Katastrophe Frankreichs 1815 erschütterten die jungen Franzosen. Beides schien Vermutungen zu bestätigen, daß Franzosen, wie früher schon Italiener und Spanier als weiteres lateinisches Volk, alt und lebensuntüchtig geworden seien. Sie müßten den jungen Germanen, den Engländern und Deutschen, weichen. Historiker, Schriftsteller, Naturwissenschaftler oder politische Journalisten fühlten Frankreich durch die Geschichte widerlegt und grübelten ununterbrochen über die Sonder- und Irrwege nach, die konsequent in den Zusammenbruch geführt hatten.

Arthur de Gobineau verzweifelte wie so viele an Frankreich und damit an der Menschheit, die jede Würde und Anmut verliert, sobald Frankreich um seinen Auftrag gebracht wird, kultivierend in die Welt auszugreifen. Die Germanen mögen einmal mit ihrer Freiheit Europa im Mittelalter verjüngt haben. Doch jetzt denken Engländer und Deutsche nur an Geschäfte, an ihren Vorteil. Sie bedrohen die Europäer, vor allem die Lateiner unter ihnen, mit einer ganz neuartigen Sklaverei, nämlich reibungslos funktionieren zu müssen in den alles erfassenden industriellen und administrativen Apparaten unter germanischer Kontrolle, die das Pluriversum der Staaten und Gesellschaften zu einem Universum totaler Langeweile verdichten. Die Sieger bringen nicht die Freiheit, sondern eine alles Leben erstickende Despotie, die erleichtert wird durch das Versprechen hemmungslosen Konsums für jedermann.

Polemik eines radikalen Aristokraten

Der Kulturpessimist Arthur de Gobineau suchte keinen Trost in der Vergangenheit und Geschichte, was nahegelegen hätte. Er war kein Konservativer, weil er gar nichts für wert hielt, unbedingt bewahrt zu werden. Was dazu bestimmt ist, zu fallen, dessen Sturz soll nicht mit ohnehin vergeblichen Anstrengungen aufgehalten werden.

Diese Überzeugung gewann der polyglotte Leser und kosmopolitische Diplomat aus der Geschichte, aus der vergleichenden Betrachtung aufsteigender und absterbender Kulturen und Reiche, um Frankreichs Gegenwart mitten im  Untergang des Abendlandes richtig verstehen und in der Geschichte als Naturgeschichte einordnen zu können. Seine Naturgeschichte vom Aufstieg und Verfall nannte er: „Versuch über die Ungleichheit der Rassen“.

Dieser Titel war schon 1853/55, als die vier Bände erschienen, ziemlich mißverständlich. Denn bei seiner Kulturgeschichte handelt es sich vor allem um die energische Polemik eines radikalen Aristokraten gegen die kapitalistisch- bürgerliche Demokratie und ihrer Einebnung aller Unterschiede und Besonderheiten. Wer immer in der Geschichte für Volksherrschaft und ungehemmtes Gewinnstreben kämpft, erweist sich als kolossal bourgeois und damit als eindeutig minderwertig, weil er mindere Werte als Höchstwerte postuliert.

Unter diesen Voraussetzungen deklassiert Gobineau das klassische Griechenland und das klassische Rom, abschreckende Beispiele für den Terror der Mehrheit im demokratischen Absolutismus. Seine Bewunderung galt den Persern, den aristokratisch-königlichen Asiaten, später den Mohammedanern und Arabern. Denn sie hielten an der Ungleichheit als aristokratischem Prinzip lange fest und verweigerten sich aus Ehre und Unterscheidungsvermögen der pöbelhaften Hoffnung auf die Gleichheit aller Menschen, bloß weil alle allzu menschlich wären.

Mit der Demokratie beginnt für ihn jedesmal der Umschlag in den totalen, alles reglementierenden Staat. Sein aristokratischer Protest – race, also Rasse meinte in Frankreich zuerst den Adel – blieb keineswegs unbeachtet. Jacob Burckhardts düsteres Bild der Spätantike, Friedrich Nietzsches Ideen von den letzten Menschen, die das Allzumenschliche überwanden, Oswald Spenglers dramatischer Entwurf vom Untergang des Abendlandes und Ortega y Gassets Empörung über den Aufstand der Massen greifen auf Anregungen Gobineaus zurück. Dieser Aristokrat und Ästhet verachtete seine Zeit und deren Zeitgenossen – klein, bejammernswürdig, schmachvoll und widerwärtig, behäbige, wohlgekleidete, wunderbar gelenkte und nach wissenschaftlichen Methoden gemästete Herden.

Vereinzelte, die sich absondern vom Pöbel

Das hielt ihn aber nicht davon ab, den Einzelnen zu lieben, eben allerletzte Menschen. Von denen reden seine Novellen und der große Gesellschaftsroman „Die Plejaden“ (1874). Gobineau ist der wahre Nachfolger Stendhals, freilich mehr ein Schriftsteller für Schriftsteller. Marcel Proust bekannte sich zu ihm als seinem Vorbild. Aber populär, obschon längst ein Klassiker, wurden seine Werke nie.

Das ist nicht weiter verwunderlich. Deren Protagonisten sind wie in einer der ersten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht Königssöhne in Bettlerkleidung, vollständig verkannt, eben Einzelgänger. Königssohn zu sein bedeutet für Gobineau nicht, als Sohn eines Kaufmanns, Angestellten, Bankiers oder Bahnhofsvorstehers zur mittelmäßigen Ehrbarkeit zu gehören. Ihn zeichnet die unbekannte Majestät aus, die gar nichts mit der Geburt zu tun hat. „Es bedeutet vielmehr“, wie der Engländer Wilfrid Nore in den „Plejaden“ bemerkte: „Ich bin kühn und großherzig von Natur, gegen alle niederen Einflüsterungen gewöhnlicher Sterblicher taub. Meine Neigungen sind nicht von der Mode diktiert, ich empfinde ganz für mich selbst und liebe oder hasse nicht gemäß den Weisungen, die mir die Zeitung erteilt.“

Kurzum, solche Königskinder begehren andere Kleinodien als die Masse. Diese wenigen erkennen und lieben einander, sie sind zu großen Leidenschaften fähig, weil sie große Herzen haben und keinerlei Verlangen, das zu tun, was man im bürgerlichen Sinne sich auszeichnen nennt.

Die Zeit mag zum Untergang bestimmt sein und den Schelmen und Rohlingen gehören, die Stumpfheit, seelische Zerstörung und inneren  Tod bewirken. Die Wohlgesinnten  sind hingegen dazu aufgefordert, wie im späten Rom, in sich selber einzukehren und sich nicht von dem Kult der Phrasen betören zu lassen. Wenn sie schon die anderen, in der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft Verlorenen, nicht retten können, dann sollen sie unermüdlich an ihrer eigenen Vollendung tätig sein, möglichst in Liebe mit einer der seltenen Königstöchter oder in Freundschaft mit Geistesverwandten verbunden, fern vom Lärm der aufgeregten Zeit.

Diese „Plejaden“, die wie das Siebengestirn als Gruppe leuchten, sind nicht nur auf das verdämmernde Europa beschränkt, sie treten auch in Persien oder Afghanistan hervor, von wo aus einst der adlig-schöne Mensch aufbrach, um mit seinem Bild die Barbaren im Westen zu entzücken.

Die „Asiatischen Novellen“ waren es zumal, die Richard Wagner begeisterten, weil sie von der subtilsten Freiheit erzählen, vom gemeinsamen Liebestod. Die Bourgeoisie genoß in „Tristan und Isolde“ – einem gänzlich unbürgerlichen Drama – die Gegenwart ihres Liebes-traums. Wagner handelte vom Menschen, der ließ sich verbürgerlichen. Gobineau sprach von Vereinzelten, die sich absonderten, weil sie sich nicht gemein machen wollten mit dem Pöbel, zu dem er mühelos auch Bürgerkönige oder Parlamentarier und Offiziere rechnete. Mit einer solch entschieden ablehnenden Haltung kann in demokratischen Zeiten keiner populär werden, mag er auch ein noch so ernsthafter, klassischer Künstler sein.