© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

„Wir glauben an die Zukunft der Deutschen“
Was hat die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg bewogen, das Attentat auf Hitler zu wagen?
Karlheinz Weißmann

Das Attentat in der Wolfsschanze am 20. Juli brachte entscheidende Änderungen in der deutschen Führungsspitze.“ Mit diesem Satz beginnt eine Wochenschau irgendwann im Spätsommer 1944. Man hat das pathetische Intro gehört und den Hoheitsadler gesehen, dessen Sockel mit Eichenlaubkranz und Hakenkreuz allerdings abgedunkelt war. Dann fährt der Sprecher fort und erklärt, daß Adolf Hitler den Anschlag überlebt habe, aber aufgrund seiner Verletzungen für regierungsunfähig erklärt wurde. An seine Stelle trat Ludwig Beck als Reichsstatthalter, Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben übernahm das Oberkommando der Wehrmacht. Goebbels wurde als Minister entlassen, er erwartet zusammen mit anderen Repräsentanten des alten Regimes – Göring, Himmler, Bormann – seinen Prozeß vor einem unabhängigen Gericht. Die Waffen-SS wurde vollständig in das Heer eingegliedert, alle militärischen Anstrengungen konzentrieren sich auf die Verteidigung der Reichsgrenzen. Die Alliierten beharrten auf ihrer Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, Generalfeldmarschall Erwin Rommel, an der Invasionsfront in der Normandie schwer verwundet, empfiehlt der neuen Reichsregierung dringend die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Gegner im Westen, um einen ehrenvollen Frieden zu erreichen.

Das Dritte Reich minus Hitler, Rassenwahn und KZ

Diese Wochenschau ist niemals ausgestrahlt worden. Sie ist eine Fiktion und stand am Anfang eines Fernsehfilms zum Attentat vom 20. Juli mit dem Titel „Operation Walküre“. Die Sendung hat die ARD 1971 ausgestrahlt und die Frage aufgeworfen, warum es in der Endphase des Zweiten Weltkriegs nicht zu einer anderen als der bekannten Entwicklung kam. Daß diese Möglichkeit bestand, ist unbestreitbar. Die Macher des Films konnten nicht nur auf die Pläne der Verschwörer hinweisen, zu denen die Errichtung einer provisorischen Regierung, die Übertragung der vollziehenden Gewalt auf Zeit an das Militär und die Ersetzung der Parteikader durch unbelastete Persönlichkeiten gehörte. Sie hatten auch die Möglichkeit, auf die Vorgänge in Paris Bezug zu nehmen, wo die Nachricht vom Scheitern des Aufstands verspätet eintraf und die Wehrmacht deshalb die befohlenen Maßnahmen eingeleitet hatte: Ausschaltung der Gestapo, Festnahme von Funktionären, Integration der Waffen-SS in das Heer und so weiter.

„Operation Walküre“ kombinierte Dokumentation, Spielszenen und Interviews mit Zeitzeugen. Das war Anfang der siebziger Jahre noch etwas Neues, und neu war auch die Art der Auseinandersetzung mit dem Widerstand. Vor allem ging es um die kritische Infragestellung jener Deutungsmuster, die die Opposition gegen das NS-Regime aus ihren konkreten Bezügen zu lösen versucht hatten. In der direkten Nachkriegszeit wollte man unanfechtbare, in erster Linie aus moralischen und religiösen Motiven handelnde Vorbildgestalten, auf die sich das Staatswesen Bundesrepublik berufen konnte. 

Umgekehrt dachte die DDR daran, den Widerstand als Teil des „fortschrittlichen“ Erbes zu reklamieren. War man im Westen entschlossen, den kommunistischen Untergrund und alle Formen des Landesverrats auszuscheiden, ging man im Osten daran, ausgerechnet die illegale KPD und die Agenten der „Roten Kapelle“ ins Zentrum zu rücken, während die Bezugnahme auf Stauffenberg oder die Geschwister Scholl eher einer Pflichtübung gleichkam.

Damals stießen diese Bemühungen um eine Legitimation in der breiten Bevölkerung auf Desinteresse, wenn nicht auf Ablehnung. Die Vorstellung, daß Stauffenberg ein „Verräter“, ein „Feigling“ gewesen sei, oder ein „Dummkopf“, war ausgesprochen verbreitet. Dabei hatte eine derartige Einschätzung nicht unbedingt mit irgendeiner politischen Positionierung zu tun, eher mit der Wahrnehmung der Erlebnisgeneration, den Erfahrungen der Soldaten, einer verbreiteten Skepsis gegenüber einer Handlungsweise, die als historische Anomalie erschien – wann hatte je ein Volk seinen Anführer ausgerechnet im Krieg getötet? – und von Männern getragen wurde, deren Absichten viele mißtrauten. 

Was den ersten Punkt angeht, so ist bekannt, daß einzelne Offiziere, deren oppositionelle Haltung unzweifelhaft war, die Teilnahme an der Verschwörung ablehnten, weil sie den militärischen Zusammenbruch, vor allem an der Ostfront, fürchteten. Ein Anschlag auf Hitler erschien selbst führenden Köpfen der Opposition (Goerdeler oder Moltke zum Beispiel) inakzeptabel, wenngleich dabei moralische Gründe eine wichtigere Rolle spielten als praktische. Schließlich entsprach der Vorwurf, daß die Männer des 20. Juli „Reaktionäre“ waren, nicht nur der NS-Propaganda, sobald sie an die Aufarbeitung des Geschehens ging, sondern auch der Einschätzung Winston Churchills, der in einer Rede vor dem britischen Unterhaus seine Befriedigung über das Scheitern des Staatsstreichs bekundete, der sonst eben die alten Eliten wieder an die Macht gebracht hätte, und der Stimmung in der deutschen Arbeiterschaft, die den Eindruck hatte, daß der braune Sozialismus eben ein Sozialismus war und ihrer Interessenlage eher entsprach als eine wie immer geartete Ordnung, die Männer mit einem „von“ im Namen schaffen würden.

Selbstverständlich spielte unter den Deutschen der Erlebnisgeneration, soweit sie nicht politisch verbohrt waren, immer auch eine gewisse Beschämung mit. Man wußte im Grunde genau, wie die Berufung auf Befehl, Gehorsam, Eidtreue im Vergleich zur Handlungsweise der Verschwörer zu gewichten war, die Gott oder ihrem Gewissen folgten, in großer Einsamkeit eine Entscheidung fällten, nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familien in die Waagschale warfen, und an deren Tapferkeit weder im Feld noch in der Haft oder unter der Folter ernsthafte Zweifel bestehen konnten. 

Dieser Hinweis gilt aber auch in bezug auf ihre weltanschaulichen Motive, jenes „Reaktionäre“, das man vermutete, wegen der Namen der Verschwörer des 20. Juli, deren Liste sich wie ein Auszug aus dem Adelskalender liest. Dieser Vorbehalt gegen sie hat mit erstaunlicher Zähigkeit überdauert und wurde seit dem großen Generationenwechsel Ende der sechziger Jahre sogar noch verstärkt, wenngleich die Affekte sich stark verändert hatten. Wäre Stauffenbergs Hitler-Attentat erfolgreich gewesen, schrieb 1977 ein junger Bundeswehroffizier, „wäre am ehesten noch ein schwarz-weiß-roter Ständestaat entstanden; gewissermaßen das Dritte Reich minus Hitler, Rassenwahn und KZ.“

Die Formulierung war bewußt bösartig, war aber näher an der Realität als die naive Vorstellung, den Verschwörern hätte ein Staatswesen wie das der Bundesrepublik vorgeschwebt. Daß das nicht so war, kann man am deutlichsten dem sogenannten „Eid der Verschwörer“ entnehmen, den Stauffenbergs Freund Rudolf Fahrner formuliert hatte (siehe „Schwur des 20. Juli“). Dieser Text zeigt den ganzen Abstand, der unsere Gegenwart von den Männern des 20. Juli 1944 trennt. Wo sollte sich heute jemand finden, der den Führungsanspruch der Deutschen in Europa begründet mit dem Verweis auf die Dreiheit Hellas – Christentum – Germanien? Wo gibt es ein Bewußtsein für die „großen Überlieferungen“ unseres Volkes? Wo solche ehrliche Verachtung der „Gleichheitslüge“ und Forderung nach „Anerkennung der naturgegebenen Ränge“? Wo das Bekenntnis: „Wir glauben an die Zukunft der Deutschen“?

Stauffenberg und sein engerer Kreis, die „Grafengruppe“ oder „Gruppe der Jungen“, sah sich durch ein besonderes Pathos verbunden. Stauffenberg prüfte mögliche Mitwisser, indem er Gedichte Stefan Georges vortrug. Er wurzelte in einer Gedankenwelt, die aus antikem Erbe wie christlicher Überlieferung die Tötung des Tyrannen erlaubte. Er war aber auch davon überzeugt, daß eine gute Ordnung eine gegliederte sein müsse, daß die Vermassung von Übel sei und die moderne Tyrannis erst möglich machte. Dieses Bewußtsein hat ihm offenbar die ungeheure Sicherheit gegeben, mit der er seinen Plan vorantrieb. 

Die Verschwörer waren sich ihrer Einsamkeit bewußt

Vielleicht war er, was das Gelingen anging, nicht so pessimistisch wie sein Freund Henning von Tresckow, von dem nicht nur das berühmte „Das Attentat muß erfolgen, coute que coute“, koste es, was es wolle, stammt, sondern auch der bittere Satz „Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.“ Und dann noch die Rede über das „Nessushemd des Verräters“, das jeder angezogen habe, der sich dem Widerstand anschloß.

Tresckow meinte damit nicht nur, daß die Verschwörer den Anhängern des Regimes in solchem Licht erscheinen würden, er wies auch darauf hin, daß man das Volk über den eigentlichen Charakter des Staatsstreichs täuschen müsse, indem man behaupte, daß das Militär das Erbe des „geliebten Führers“ gegen die Begehrlichkeiten von SS und Partei verteidige. Niemand in diesem kleinen Kreis des Widerstandes gab sich der Illusion hin, die „Volksgenossen“ würden die Beweggründe der Männer verstehen oder ihre Tat ohne Wenn und Aber begrüßen. Bestenfalls konnte man hoffen, nach dem Ende des Krieges über das ganze Ausmaß der Verbrechen aufzuklären. Aber selbst dann war die Gefahr nicht gebannt, des „Dolchstoßes“ bezichtigt zu werden.

Die große Einsamkeit, in der die Verschwörer handelten, ist auch deshalb menschlich eindrucksvoll, weil sie es aus dem Bewußtsein heraus taten, ihr Schicksal unauflöslich mit dem ihrer Nation verknüpft zu haben. Was das im besten Fall hätte bedeuten können, wurde von Wolfgang Venohr in seinem Stauffenberg-Buch aufgezeigt. Auch er erlaubte sich den Kunstgriff, einen alternativen Verlauf der Ereignisse durchzuspielen: das Attentat ist gelungen, eine neue Reichsregierung ernannt, die Versuche, die Fronten zu stabilisieren, scheitern, die Westmächte sind zu keinem Friedensschluß bereit, im Frühjahr 1945 muß die Wehrmacht kapitulieren, immerhin unter Vermeidung letzter großer Zerstörungen. Und dann? „Etwa drei Monate nach Abschluß der Kapitulation und dem Einmarsch der Alliierten in das Reich“, schreibt Venohr, „wäre es soweit gewesen, daß die Besatzer ihn in ein Internierungslager gesperrt hätten. Der schwerverletzte Stauffenberg wäre, die Kriegsauszeichnungen abgerissen, auf einem Jeep herangefahren, durch eine Doppelreihe grinsender Militärpolizisten mit weißen Schlagstöcken getrieben worden – ‘Go on, go on!’ oder ‘Mak snell, mak snell!’ hätten sie ihn angekreischt – und hätte dann, nach rüder Filzung seiner paar Habseligkeiten, hinter Stacheldraht gestanden.“

Derartige Gedankenexperimente wirken erhellend. Hier in dem Sinn, daß wir besser begreifen, worin eigentlich das Erbe des 20. Juli besteht: nicht nur in der Tapferkeit der wenigen, nicht nur im überzeugenden Beispiel einer Gewissens-tat, sondern auch in der Verpflichtung, sich einzusetzen für die große Überlieferung, in der wir stehen, jenes „Geheime Deutschland“, von dem Stauffenberg gesprochen hat, ein unterirdischer, nur gelegentlich an die Oberfläche tretender, Zusammenhang über die Zeit hinweg  dessen Kaiser und Helden jene Vorbilder sind, an denen wir uns selbst und unsere Kinder ausrichten sollten.





Schwur des 20. Juli

Wir glauben an die Zukunft der Deutschen.

~

Wir wissen im Deutschen die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen.

~

Wir bekennen uns im Geist und in der Tat zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schuf.

~

Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und fordern die Anerkennung der naturgegebenen Ränge.

~


Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt den natürlichen Mächten nahebleibt, das im Wirken in den gegebenen Lebenskreisen sein Glück und sein Genüge findet und in freiem Stolze die niederen Triebe des Neides und der Mißgunst überwindet.

~

Wir wollen Führende, die aus allen Schichten des Volkes wachsend, verbunden den göttlichen Mächten, durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorangehen.

~

Wir verbinden uns zu einer untrennbaren Gemeinschaft, die durch Haltung und Tat der Neuen Ordnung dient und den künftigen Führern die Kämpfer bildet, derer sie bedürfen.

~

Wir geloben: untadelig zu leben – gewissenhaft zu dienen – unverbrüchlich zu schweigen – und füreinander einzustehen.





Das Attentat vom 20. Juli 1944

Am 20. Juli 1944 verübte Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Führerhauptquartier im ostpreußischen Rastenburg einen Bombenanschlag auf Hitler. Am gleichen Tag begab sich Stauffenberg mit dem Flugzeug nach Berlin, um dort die „Operation Walküre“, einen Umsturz gegen die NS-Führung, zu koordinieren. Da noch am Abend bekannt wurde, daß Hitler den Anschlag leicht verletzt in der Lagebaracke überlebt hatte, scheiterte der Versuch, die Kontrolle über das Regierungsviertel der Hauptstadt zu übernehmen, im Ansatz. Stauffenberg und drei Mitverschwörer (Olbricht, von Haeften, Mertz von Quirnheim) wurden noch am Abend des 20. Juli im Innenhof des Bendlerblocks erschossen, Generaloberst Ludwig Beck verübte Suizid. Nach dem Scheitern dieser Operation wurden über 200 Verschwörer, teilweise nach Schauprozessen, hingerichtet, ihre Familien in Konzentrationslager deportiert. Insgesamt rekrutierte sich der Widerstandskreis des 20. Juli aus hohen Militärs, Adligen, Theologen, Wissenschaftlern und Verwaltungsbeamten unterschiedlicher politischer Ausrichtung.