© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Letzter Ausflug vor den großen Ferien
Die „Gruppe 47“ als Kulturexport: Jörg Magenau über die Reise der Autorengruppe 1966 in die USA
Thorsten Hinz

Das war nun der Gipfel! Die 1966er Tagung der „Gruppe 47“ fand auf Einladung des German Department an der Universität Princeton, USA, statt. Unterkunft und Verpflegung waren frei, für höchstens 80 Teilnehmer standen je 400 Dollar für die Reisekosten zur Verfügung, und außerdem erhielten Autoren die Möglichkeit, anschließend zwei Wochen lang die USA zu erkunden. Die Ford Foundation übernahm die Spesen. Für jeden sichtbar wurde damit demonstriert: Die informelle Autorengruppe um Hans Werner Richter, die sich seit 1947 einmal jährlich an wechselnden Orten zu Lesung und Kritik versammelte, war zu einer öffentlichen Institution geworden und als solche auch im Ausland anerkannt. Man konnte sich mit ihr schmücken.

Der intime Werkstattcharakter war ihr schon lange abhanden gekommen. Verleger und Kritiker hatten sich ihrer bemächtigt und die Tagungen in einen kommerziellen Marktplatz und einen Jahrmarkt der Eitelkeiten verwandelt. Und nun gar Amerika!

Nicht allen gefiel das. Martin Walser sagte seine Teilnahme ab: wegen des Vietnamkrieges. Peter Weiss sagte zu: trotz oder vielleicht auch gerade wegen Vietnam. Er sah eine Gelegenheit, vor Ort seine Solidarität mit dem besseren Amerika zu bekunden. Heinrich Böll blieb zu Hause, weil er nicht als Feigenblatt für die Bundesrepublik in Anspruch genommen werden wollte. Eine Tagung der „Gruppe 47“ in Princeton, teilte er Richter mit, sei geeignet, ihr außenpolitisches Renomee in den USA zu vergrößern. Das hätte sie nicht verdient. Vielmehr müsse ihr Kredit abgebaut werden. Die erste Große Koalition in Bonn warf ihre Schatten voraus. Böll prophezeite „die Vermählung zweier fast gleich großer Kadaver“.

Die meisten aber kamen: Günter Grass, Walter Jens, Uwe Johnson, und natürlich die Kritiker, die sich als die eigentlichen Stars betrachteten und eine Bühne brauchten: Joachim Kaiser, Hellmuth Karasek, Hans Mayer, Fritz J. Raddatz, Marcel Reich-Ranicki und andere. Zum Höhepunkt der Tagung geriet aber der Auftritt eines bis dato Unbekannten, des 24jährigen Peter Handke, der schüchtern und zugleich unnahbar wirkte und von vielen zunächst für ein Mädchen gehalten wurde. 

Handke stieß alle Regeln um, die sich die Gruppe gegeben hatte und ließ eine Philippika gegen die „Beschreibungsimpotenz“ der deutschen Gegenwartsliteratur los. Ein großes Wort, das sogleich die Runde machte, ohne daß so recht deutlich wurde, was Handke meinte. Es gehörte halt zur Inszenierung. „Beatles-Frisur, Brille, Publikumsbeschimpfung und dazu dieses blaue Schildmützchen: fertig war der Popstar:“ Schlagartig hatte Handke sich als Marke im Literaturbetrieb etabliert. Auch beim wiederholten Nachlesen wird nicht recht klar, worum es in seiner Rede eigentlich ging und worauf ihre Wirkung beruhte.

Vermutlich bot sie nur den Anlaß für das Beben, der Grund dafür lag außerhalb der Texte, die vorgetragen wurden. Mit der Tagung in Princeton war, wie gesagt, der Gipfel öffentlicher Wahrnehmung und gesellschaftlicher Reputation erreicht. Sie machte zugleich deutlich, daß der theaterhafte und kommerzielle Charakter der Veranstaltung die literarische Substanz überwog. Die „Gruppe 47“ hatte sich erschöpft, es konnte nur noch bergab gehen. Tatsächlich sollte die Tagung im folgenden Jahr die letzte sein.

Der Autor Jörg Magenau hat ein kluges, kundiges Buch geschrieben und dabei literarischen Ehrgeiz entwickelt. Er erzählt aus wechselnden Perspektiven, läßt Zeitebenen changieren, legt Spuren und erweckt stets den Eindruck, noch viel mehr zu wissen, als er kundtut. Ärgerlich sind nur Formulierungen wie „deutsche Schuld“ oder „deutsche Verbrechen“. Das müssen ganz besondere Dinge sein. Oder hat die Welt schon etwas von „russischen“, „amerikanischen“, „wikingischen Verbrechen“ oder von einer „bantustanischen Schuld“ gehört?

Die Verflüchtigung des Geistes in die Irrelevanz

Das Buch kann, weil es so glänzend erzählt ist, beim Leser allerdings auch einen gegenläufigen Effekt auslösen. Weil er sich hinterher fragt, ob der Aufwand, den Magenau betrieben hat, sachlich gerechtfertigt ist. Wer kennt denn noch die vielen Namen, mit denen er jongliert, und die Literatur, die sich mit ihnen verbindet? Natürlich, von Grass bleibt die „Blechtrommel“, und Johnsons „Mutmaßungen“ und „Jahrestage“ erweisen sich als wetterfest. Und Enzensberger? Hm – der molekulare Bürgerkrieg! Doch Erich Fried? Agitprop! Walter Jens? Ein hagerer Zeigefinger! Reinhard Lettau? Peter O. Chotjewitz? Der hatte was mit der RAF zu tun, oder? Und Gabriele Wohmann? Soll man sich die Erzählung über die „erotischen Witwenskrupel am Ende eines Trauerjahres“, die sie in Princeton zum besten gab, heute wirklich antun?

Fritz J. Raddatz hat in seinen Tagebüchern den unbarmherzigen Alterungsprozeß geschildert, dem die Kämpen des bundesrepublikanischen Kulturbetriebs unterworfen waren. Es ging nicht nur um die Hinfälligkeit der Physis, sondern auch um die Verflüchtigung eines lange bestimmenden Geistes in die Irrelevanz. Auch daran gemahnt Magenaus Buch.

Jörg Magenau: Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Verlag Klett Cotta, Stuttgart 2016, gebunden, 213 Seiten, 19,95 Euro