© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Königsberger Selbstkrönungen
Der Germanist Steffen Martus zeichnet ein lebendiges Historienpanorama vom aufgeklärten 18. Jahrhundert
Felix Dirsch

Darstellungen großer Epochen sind selten geworden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Schon Ernst Cassirer klagte in seiner 1932 erschienenen Grundlagenschrift „Philosophie der Aufklärung“, die von Steffen Martus übergangen wird, über die uferlose Detailflut, die mit dem Thema verbunden ist. Seither ist die Literatur nochmals kräftig angewachsen. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, daß der mehrfach geehrte Berliner Germanist Steffen Martus in die Fußstapfen herausragender Kenner wie Rudolf Vierhaus und Panajotis Kondylis tritt. Die Beschränkung auf das 18. Jahrhundert bringt den Vorteil mit sich, daß die Kontroversen über die chronologischen Grenzen der Aufklärung, etwa über deren strittigen Beginn, außer acht bleiben können. 

Martus wählt eine chronologische Vorgehensweise: Vier Teile unterscheiden die „Anfänge der Aufklärung“, eine „Aufklärung ohne Grenzen“, die „Aufklärung im Widerstreit“ und das „Ende eines Zeitalters“. Zwei Selbstkrönungen in Königsberg rahmen die Monographie ein: Der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. machte sich dort 1701 souverän und schuf durch die Krönung zum König in Preußen die Voraussetzungen für das Wirken seines noch berühmteren Enkels. 

Die Aufklärung als doppelgesichtiges Zeitalter

Im späten 18. Jahrhundert erregte wieder eine bedeutende Persönlichkeit – diesmal auf dem Gelehrtenthron – in der Metropole am Pregel internationales Aufsehen: Immanuel Kant. Er bleibt das zentrale Denkergestirn in den deutschen Territorien und hat die bis heute unüberholte Definition jener Zäsur der Weltgeschichte geliefert: Aufklärung bedeutet den Vollzug von Mündigkeit und Selbstreflexion. Wohltuend bis in die Gegenwart ist auch die nüchterne Differenzierung des ostpreußischen Meisterdenkers zwischen einem aufgeklärten Zeitalter und dem der Aufklärung. 

Martus gibt Einblicke in ein doppelgesichtiges Zeitalter: Vordergründig herrschte die Ratio. Unter der Decke bemerkte man jedoch überall Geisterseherei und Okkultismus. Vernunft, personifiziert durch Voltaire, regierte neben der Leidenschaft, die der ungeliebte Brieffreund des französischen Polemikers, Jean-Jacques Rousseau, verkörperte. In der Erkenntnislehre liefen lange Zeit Sensualismus und Rationalismus nebeneinander her, ehe Kant eine geniale Synthese beider Stränge gelang. 

Die herausragenden Mächtigen waren zerrissen wie das Zeitalter. Ausgerechnet Friedrich II., der Verfasser des „Antimachiavell“, zettelte 1740 um der Eroberung Schlesiens willen einen Krieg gegen Österreich an, der letztlich 1756 in den Siebenjährigen Krieg, den faktisch ersten Weltkrieg mündete. Nicht von ungefähr sehnte sich das Zeitalter nach Frieden, worüber nicht nur Kants berühmte Schrift aus dem Jahre 1795 Aufschluß gibt.

Zur Höchstform läuft der Autor auf, wenn er über das wichtigste literarische Scharmützel des Jahrhunderts schreibt: den Disput zwischen dem Leipziger Literaten Johann Christoph Gottsched und den Züricher Dichtern Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger, der über Grundsätzliches der eigenen Zunft handelte, nicht zuletzt über den vermeintlichen sächsischen „Sprachimperialismus“. 

So sehr sich Martus auch um die Beschreibung unterschiedlicher Disziplinen bemüht: Die Gewichtung der Themenwahl ist nicht ausgewogen, da Literaturwissenschaft und Philosophie, vertreten vor allem durch die Repräsentanten Christian Wolff, Christian Thomasius und Gottfried Wilhelm Leibniz, zu sehr im Vordergrund stehen. Ist es sinnvoll, die Musik, noch dazu ihre klassische Ausprägung, völlig außen vor zu lassen? Sieht man von dem Tiepolo-Exkurs ab, gilt das auch für die Kunst. Darf man von Ansätzen der Historie von unten, insbesondere der Alltagsgeschichte, auf der in den letzten Jahrzehnten allzu oft der Fokus ruhte, absehen? 

Diese Anfragen sollen in keiner Weise dazu angetan sein, die Leistungen des Verfassers gering zu achten. Seine lebendige Darstellung vieler Mosaiksteinchen einer faszinierend pluralen Periode, die ähnlich medien- und kommunikationshungrig war wie die unsere, dürfte schnell zum Standardwerk avancieren.

Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Rowohlt Verlag, Berlin 2015, gebunden, 1.033 Seiten, 39,95 Euro