© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Nicht für die Scholle kämpfen
Bundeswehr: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stellte in Berlin mit dem neuen Weißbuch die Leitlinien der deutschen Sicherheitspolitik vor
Christian Vollradt

Die Frage eines französischen Korrespondenten, ob Deutschland nun endlich sein Trauma des Zweiten Weltkriegs überwunden habe, beantwortete Ursula von der Leyen ausweichend: „Wir werden nie vergessen, woher wir gekommen sind“, gibt die Verteidigungsministerin am Mittwoch vergangener Woche zu Protokoll, als sie das frisch vom Kabinett abgesegnete Weißbuch vorstellt. Das sicherheitspolitische Selbstverständnis ist geprägt durch die Lehren aus unserer Geschichte, heißt es darin zu Beginn, „und daran werde sich auch hoffentlich in Zukunft nichts ändern“, ergänzt die Ministerin. 

Dennoch, daran lassen weder die 140 Seiten des sicherheitspolitischen Grundsatzpapiers noch die Ressortchefin einen Zweifel, Deutschlands Rolle in der Welt habe sich verändert, die Bundesrepublik sei bereit, Verantwortung bei der Bewältigung internationaler Krisen und dabei „aus der Mitte“ die Führung zu übernehmen. Denn das sei ebenso eine Lehre der Geschichte: „Auch Nichthandeln kann schuldig machen“, betont von der Leyen. 

Zehn Jahre nach dem letzten gibt es nun also ein neues Weißbuch, das – so wird allenthalben unterstrichen – ressortübergreifend, in enger Abstimmung mit Auswärtigem Amt, dem Entwicklungs- sowie dem Innenministerium und in einem offenen, transparenten Prozeß unter Beteiligung von etwa 150 Experten erarbeitet worden sei. Ungebrochen ist die Kontinuität zu den Vorgängerpapieren in zwei wesentlichen Punkten, dem Grundsatz der vernetzten Sicherheit und der „tiefen Verankerung“ in den Bündnissen Nato und EU. Doch auch die Unterschiede liegen auf der Hand: 2006 gab es noch die Wehrpflicht, und niemand dachte an ernsthafte Spannungen mit Rußland. Landes- und Bündnisverteidigung haben (wieder) einen höheren Stellenwert bekommen. 

Im wesentlichen besteht das Weißbuch aus zwei Teilen: Im ersten wird zunächst die außen- und sicherheitspolitische Lage Deutschlands umrissen; laut von der Leyen haben wir es da mit einer „nie dagewesenen Parallelität und Größenordnung von Krisen und Konflikten zu tun“. Als Beispiele werden die Annexion der Krim, der Terrorismus des Islamischen Staats, hybride Bedrohung, die Flüchtlingskrise – irreguläre Migration nennt von der Leyen ausdrücklich als Sicherheitsbedrohung – sowie Pandemien genannt. 

Einsatz im Innern             bei Terrorlage möglich

In Teil zwei geht es um die Schlußfolgerungen für die Bundeswehr. Die Absichtserklärungen lassen kaum Wünsche offen: mehr Geld für die Truppe, mehr und besseres Material statt Mangelverwaltung, mehr Soldaten. Die starre Obergrenze wird abgeschafft, es gilt der Grundsatz des „atmenden Personals“. Bei den von Pleiten, Pech und Pannen geprägten Großprojekten würden jetzt Frühwarnsysteme greifen und die schlimmsten Auswüchse verhindern, ist sich von der Leyen sicher. 

Einer der bereits im Vorfeld umstrittensten Sätze im Weißbuch betrifft den Abschnitt Personalstrategie. „Nicht zuletzt böte die Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU nicht nur ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotential für die personelle Robustheit der Bundeswehr, sondern wäre auch ein starkes Signal für eine europäische Perspektive.“ Auf Nachfrage betont von der Leyen, sie wolle damit das genaue Gegenteil einer Fremdenlegion. 

Den Kritikern – vor allem im Bundeswehrverband, der die Staatsangehörigkeit wegen des besonderen Treueverhältnisses für elementar erachtet – entgegnete die Ministerin: „Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben eine tiefe Überzeugung, wofür sie einstehen. Es ist nicht die Scholle, sondern es sind die?Werte – es ist die Demokratie, es ist die Freiheit, es ist der Respekt vor den?Menschenrechten, die Durchsetzung des Rechtsprinzips des Rechtsstaates. Das?sind tiefeuropäische Werte.“ Daß im Eid der Soldaten weder von der Scholle noch von Werten die Rede ist, sondern von der Pflicht, „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“, ist offenbar ohne Belang. 

Auch an anderer Stelle findet sich im Weißbuch neben den ohnehin vielen Allgemeinplätzen manch modisches Gedöns, das in deutlichem Widerspruch zum ansonsten stets betonten Ernst der Lage steht: „Die deutsche Gesellschaft wird bunter und vielfältiger. Die Bundeswehr sieht diese Vielfalt als Chance.“ Gefordert sei ein „modernes Diversity-Management“ mit Blick auf „Alter, Behinderung, ethnische oder kulturelle Herkunft, Geschlecht, Religion oder sexuelle Orientierung“. Aufreger Nummer zwei – in erster Linie für die Opposition – ist der (erweiterte) Einsatz der Bundeswehr im Innern, dem vier Absätze gewidmet sind. Sie zeugen vom Kompromißcharakter zwischen dem Wunsch der Union nach einer Grundgesetzänderung und dem Beharren der SPD auf dem Status quo. Nun also sollen Soldaten bei terroristischen Großlagen unter Federführung der Polizei mit Hoheitsbefugnissen im Inland eingesetzt werden können.