© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Am Zug
Christian Vollradt

Neulich auf dem Berliner Hauptbahnhof. Sigmar Gabriel steht abends um halb sieben an Gleis 14 und wartet auf den ICE 877 Richtung Karlsruhe, der ihn in seinen Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel oder Richtung Wohnort, nach Goslar bringen soll. Doch die Anzeigetafel kündigt eine Verspätung des Zuges von 70 Minuten infolge eines Unwetters an. 

Also weicht der Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende wie andere Reisende auch auf den Intercity nach Münster aus, der gerade am gegenüberliegenden Gleis eintrifft. Der hält in Wolfsburg, ab da kann man problemlos die nächste Regionalbahn bis Braunschweig nehmen – oder die dort wartenden schweren Limousinen direkt in die VW-Stadt beordern. Aber gerade als sich Gabriel mit seinen Personenschützern und weiteren Begleitern in der ersten Klasse niedergelassen hat, meldet sich der Zugchef per Lautsprecherdurchsage: Leider dürfe er den Zug nicht abfahren lassen. Die Klimaanlage sei defekt und angesichts einer Außentemperatur von knapp 30 Grad sei eine Fahrt ohne Klimatisierung nicht zu verantworten. Der Zug muß geräumt werden, die Verspätung des ICE nach Karlsruhe hat sich inzwischen auf 90 Minuten erhöht.

Das wäre normalerweise keiner Erwähnung wert, übliche Scherereien, wie sie auch allen anderen Berufspendlern nicht selten passieren. Bei Sigmar Gabriel ist diese Petitesse jedoch geradezu symbolisch aufgeladen. Es läuft im Moment nicht rund für den Chef-Sozialdemokraten. Und immer wenn ein Problem gelöst scheint, taucht das nächste auf. In den Umfragen dümpelt die Partei bei um die 20 Prozent herum, dann verlor die älteste unter den Bundestagsparteien laut einer Studie des Parteienforschers Oskar Niedermayer auch noch im Vergleich zu den anderen am meisten Mitglieder. 

„So geht es nicht weiter“, äußerte ein anonymes Vorstandsmitglied jüngst in der FAZ und sprach damit offenbar auch der Basis aus dem Herzen. Wird Gabriel den Sommer im Amt überleben? Droht – wie die Welt spekulierte – bei den Roten der Putsch gegen den unpopulären Häuptling aus dem Harz? Noch immer ist nicht sicher, ob Gabriel die Kanzlerkandidatur anstrebt, noch immer ist unklar, mit welchen thematischen Schwerpunkten die SPD in den Wahlkampf gehen will und vor allem: mit welcher Koalitionsperspektive. Ist Rot-Rot-Grün 2017 eine Option, wie manche meinten – und andere sogleich dementierten? So richtig zur Ruhe kommt die Partei nicht. Am 4. September, dem Tag der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern, will sich das Präsidium zu einer Klausurtagung treffen. Auf der Tagesordnung sollen auch Personalfragen stehen. Führt da jemand den Dolch im Gewande, steht Gabriel der Scharping- oder Beck-Moment bevor?

Zu allem Überfluß machte er jetzt auch als Wirtschaftsminister eine schlechte Figur angesichts der gerichtlich untersagten Fusion von Tengelmann und Edeka (siehe Seite 11). 

Das wiederum war an jenem heißen Sommerabend auf dem Bahnsteig – in Sichtweite des Kanzleramts – noch nicht absehbar. Der regulär folgende ICE rollte dann pünktlich; der politische Zug könnte für Gabriel längst abgefahren sein.