© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Sag mir, wo die Handys sind
NSU: Versäumnisse des Verfassungsschutzes setzen Behördenchef Hans-Georg Maaßen unter Druck
Peter Möller

Das dürfte ein einsamer Rekord in der deutschen Parlamentsgeschichte sein: Anfang Juli konstituierte sich im Brandenburger Landtag der mittlerweile elfte NSU-Untersuchungsausschuß in einem deutschen Parlament; und vergangene Woche stand im Stuttgarter Landtag die Einsetzung des bereits zweiten Untersuchungsausschusses in Baden-Württemberg auf der Tagesordnung.

Gleichzeitig biegt der NSU-Prozeß vor dem Münchner Oberlandesgericht auf die Zielgerade: Prozeßbeobachter rechnen spätestens im Herbst 2017 mit einem Urteil. Alles läuft auf einen Schuldspruch und eine langjährige Haftstrafe für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hinaus. 

Schnell schossen            Spekulationen ins Kraut

Doch diese emsige Aufklärungsarbeit führt nicht dazu, daß die Fragen rund um den NSU weniger werden. Im Gegenteil. In den vergangenen Wochen rückte die Rolle des Verfassungsschutzes verstärkt in den Fokus. Vor allem der Umgang der Behörden in Bund und Ländern mit den zahlreichen V-Leuten im Umfeld des NSU-Trios sorgte für Schlagzeilen. Immer wieder tauchen in diesem Zusammenhang neue Hinweise auf Versäumnisse auf, durch die die Rolle der Verfassungsschutzbehörden zunehmend zwielichtiger erscheint. Dafür gibt es zwei Erklärungen: Entweder haben staatliche Stellen tatsächlich etwas zu verbergen, oder aber sie sind unfaßbar unprofessionell.

Das wird besonders am Beispiel des V-Manns „Corelli“ deutlich. Unter diesem Decknamen lieferte der Rechtsextremist Thomas Richter fast zwanzig Jahre lang Informationen über die rechtsextremistische Szene an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Nach seiner Enttarnung 2012 lebte er unter neuer Identität in der Nähe von Paderborn. Dort starb der 38 Jahre alte Ex-V-Mann 2014 völlig überraschend. Laut Obduktion war Corelli an den Folgen eines unerkannten Diabetes gestorben.

Schnell schossen Spekulationen ins Kraut: Wurde Corelli ermordet, um einen Zeugen für die Verstrickung des Verfassungsschutzes in die NSU-Mordserie aus dem Weg zu räumen? Denn unmittelbar vor dem Tod Richters war beim Hamburger Verfassungsschutz eine CD aufgetaucht, die ein V-Mann der Behörde nach eigenen Angaben von Corelli erhalten hatte. Das Brisante: Auf der CD, die vor dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 hergestellt wurde, befindet sich eine Datei mit dem Schriftzug „NSU/NSDAP“. Hatte Corelli also, anders als von ihm behauptet, doch Kenntnis vom NSU, oder sogar Kontakt zum mutmaßlichen Terrortrio? Die Beamten, die Corelli hierzu befragen sollten, fanden seine Leiche.

Die durch den überraschenden Tod des ehemaligen V-Mannes aufgeworfenen Fragen waren so brisant, daß das für die Kontrolle der Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages 2014 eigens einen Sonderermittler einsetzte. Der frühere Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag (Grüne) wertete im Auftrag des Gremiums Akten des Verfassungsschutzes aus, um zu klären, wie nahe Corelli tatsächlich am NSU dran war und ob er vielleicht doch ermordet wurde. In seinem im vergangenen Jahr vorgelegten Abschlußbericht konnte Montag keine neuen Hinweise darauf präsentieren, daß Corelli mehr vom NSU wußte als bislang bekannt. Auch zur Todesursache förderte er keine neuen Erkenntnisse zutage.

Mit Montags Bericht schien der Fall Corelli aufgeklärt. Bis zum Mai dieses Jahres. In einem Panzerschrank des BfV in Köln tauchte ein bislang unbekanntes Mobiletelefon Corellis auf. Dieses war Montag bei seinen Nachforschungen entgangen oder vorenthalten worden. Drei Wochen später präsentierte die Behörde dann noch fünf unbekannte Sim-Karten aus dem Besitz ihrer einstigen „Topquelle“. Doch damit nicht genug. Ende Juni tauchten beim Verfassungsschutz weitere Telefone auf, die Corelli zugeordnet werden konnten und die bislang offenbar nur teilweise oder falsch ausgewertet worden waren. Insgesamt handelt es sich dabei offenbar um bis zu 23 Mobiltelefone.

Durch diese Handy-Affäre ist Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen massiv unter Druck geraten und sieht sich Rücktrittsforderungen ausgesetzt. Das „Chaos in den Panzerschränken“ ziehe sich im BfV „durch alle Ebenen bis zur Amtsleitung“, urteilte die Obfrau der Grünen im Untersuchungsausschuß, Irene Mihalic, nachdem sich Maaßen den Fragen der parlamentarischen Aufklärer gestellt hatte. Es sei ein „ganz klares Versäumnis“ von Maaßen, daß er sich zu dem brisanten Fall nicht persönlich habe berichten lassen. Gestützt wird diese Einschätzung durch einen vertraulichen Bericht des vom Bundesinnenministerium eingesetzten Untersuchungsbeauftragten Reinhard Rupprecht. Dieser berichtet in seinem Rapport im Zusammenhang mit dem Fall Corelli von zahlreichen „Regelverstößen und Schwachstellen“ im BfV.

Als wären die Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten im Fall Corelli nicht schon groß genug, sorgte Anfang Juni eine Aussage im NSU-Ausschuß des nordrhein-westfälischen Landtages für weiteres Aufsehen. Der von der zuständigen Staatanwaltschaft beauftragte Gutachter Werner Scherbaum, der bislang eine Fremdeinwirkung beim Tod Richters ausgeschlossen hatte, gab jetzt zu Protokoll, es sei möglich, daß die bei Corelli festgestellte todesursächliche Zuckerkrankheit durch das Rattengift Vacor ausgelöst worden sei. Wurde der ehemalige V-Mann also doch ermordet? Auch wenn der Gutachter seine Einschätzung später relativierte, wirft dieser Vorfall wiederum ein bezeichnendes Licht auf die Arbeit der Behörden. Die Todesumstände Corellis werden jedenfalls nun noch einmal unter die Lupe genommen. Weitere Überraschungen nicht ausgeschlossen.