© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Im Visier des Islamischen Staats
Brasilien: Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele probt das Land den Ernstfall – Drohungen und Festnahmen
Lukas Noll

Brasilien, ihr seid der nächste weiße Fleck auf unserer Landkarte“, verkündete Maxime Hauchard im November. Hinter dem Franzosen steckt kein reiselustiger Backpacker, der sich Copacabana und Zuckerhut auf die Liste gesetzt hat. Hauchard ist Kämpfer des Islamischen Staats (IS), seinen Twittereintrag stellte er nur wenige Tage nach den Pariser Terroranschlägen ins Netz. 

Der Authentizität der Drohung ist sich der brasilianische Geheimdienst Agencia Brasileira de Intelegência (ABIN) sicher: Der 22jährige Franzose soll sich laut den französischen Behörden 2013 nach Syrien aufgemacht haben, um sich dort dem IS anzuschließen. 

Mittlerweile soll er in mehreren Enthauptungsvideos der Dschihadisten zu sehen sein – und Hauchard scheint  nicht allein: Über den Kanal „Ansar al-Khilafah #Brazil“ schwor am 18. Juli eine islamisch-extremistische Gruppe aus Brasilien dem IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue – knapp drei Wochen vor Beginn der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro. 

Zudem kursierten Hinweise darauf, daß wieder einmal Frankreich im Visier des islamistischen Terrors stehen könnte – diesmal in Gestalt des französischen Olympiateams in Brasilien.

Mit den „Defensores da Sharia“ gab  Brasiliens Justizminister Alexandre de Moraes am 21. Juli die ersten Festnahmen bekannt: Die zehnköpfige Amateur-Zelle rund um „O Brasileiro“, wie der Islamist Ismail Abdul Jabbar Al-Brazili genannt wird, sei zwar eher dürftig organisiert gewesen. Sie habe aber bereits den Kauf von AK-47 in Paraguay vorbereitet. Gegen die Gruppe aus brasilianischen Staatsbürgern habe man seit April ermittelt, 90 weitere Sympathisanten in zehn der 27 brasilianischen Bundesstaaten würden derzeit überwacht.

Entsprechend erhöhte Brasiliens Geheimdienst vor einigen Monaten die Terrorwarnstufe, wie ABIN-Antiterror-Chef Luiz Alberto Sallaberry mitteilte: Nicht nur wegen der explizit auf Brasilien gemünzten Drohungen im Internet. Auch die weltweit steigende Anzahl an Terrorakten bewegt Lateinamerikas bevölkerungsreichste Nation angesichts der nahenden Spiele zu einer härteren Gangart. 

Sicherheitskräfte proben deshalb bereits seit einigen Wochen den Ernstfall, wappnen sich für Verfolgungsjagden, Schießereien oder Bombenanschläge. So waren an einer Übung im Stadtteil Deodoro 500 Beamte von Militär, Polizei und Feuerwehr beteiligt. Kein Zufall – in dem Viertel werden allein sieben olympische Disziplinen ausgetragen. 

„Ich sage nicht, daß ein Attentat geschehen wird. Aber ich sage, daß die Wahrscheinlichkeit eines solchen  in unserem Land zum ersten Mal ausdrücklich gestiegen ist“, so der Geheimdienstler Sallaberry. Brasiliens Verteidigungsminister Raul Jungmann hat nicht zuletzt das Lkw-Attentat von Nizza im Blick, wenn er noch mehr Kontrollpunkte, Absperrungen und Blockaden als ohnehin geplant in der Stadt installieren will. 

Die Eröffnung des Olympischen Dorfs am 24. Juli macht sich nicht nur durch das Heer an Sportlern aus aller Welt bemerkbar: 85.000 Sicherheitskräfte, darunter 38.000 Soldaten, werden von diesem Tag an über Brasiliens zweitgrößte Stadt wachen. Allein 80 Flugzeuge stehen zum Abschuß verdächtiger Objekte bereit, die malerische Bucht wird von Marineschiffen und Aufklärungsdrohnen überwacht. 

Die Anschlagsdrohungen sind ein Novum für die lateinamerikanische Hemisphäre – zumindest in Gestalt eines Terrors islamischer Couleur: Lange durfte sich die Region vor muslimischen Fanatikern weitgehend sicher wähnen. Nicht nur die geographische Entfernung zur islamischen Welt und der verschwindend geringe Bevölkerungsanteil von Muslimen in Lateinamerika trugen bislang dafür Sorge, die Region aus dem Blickfeld der Islamisten zu halten. Abseits gelegentlicher Versuche, zwischen den nordatlantischen Staaten und der islamischen Welt zu mitteln – so Brasilien etwa 2010 im Atomstreit mit dem Iran –, halten sich die meisten Länder strikt aus den Angelegenheiten der muslimischen Welt heraus. So beteiligte sich kein lateinamerikanisches Land an der Isaf-Mission in Afghanistan, nur vereinzelte mittelamerikanische Staaten gesellten sich zur „Koalition der Willigen“ im Irak-Krieg. Nun jedoch will das zu den „Brics“-Staaten gehörende Brasilien die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten in Europa und Nordamerika ausweiten. Auch kündigte ABIN eine verstärkte Überwachung von Brasilianern an, die sich in sozialen Netzwerken mit dem IS solidarisieren.

Selten dürfte ein Sportereignis seinem Austragungsland so ungelegen kommen wie die Olympischen Sommerspiele 2016 dem krisengeschüttelten Brasilien – auch über die jüngsten Drohungen hinaus: Im Mai erst wurde Staatspräsidentin Dilma Rousseff durch ein Mißtrauensvotum vorübergehend ihres Amtes enthoben, seitdem herrscht der als korrupt geltende Michel Temer über die die größte Volkswirtschaft der Region. Diese durchläuft zur Zeit nicht nur eine politische Krise: Die Wirtschaftsleistung in Gestalt des Bruttoinlandsprodukts sank im vergangenen Jahr um 3,8 Prozent. 

Der Anschein von Stabilität trügt 

Der Bundesstaat Rio de Janeiro leidet zudem besonders unter dem niedrigen Ölpreis. Seine Öleinnahmen, die im Jahr 2014 noch bei 3,5 Milliarden Dollar (rund 3,1 Milliarden Euro) lagen, könnten noch in diesem Jahr auf eine Milliarde Dollar zurückgehen. Auch die „Stadt im Staat“, der Austragungsort an der berühmten Guanabara-Bucht, hat nicht nur mit einer explodierenden Kriminalitätsrate, sondern auch mit Insolvenz zu kämpfen. 

Mehrere Olympiabauten, darunter auch die neue U-Bahn zum Olympiadorf, standen deshalb bis zuletzt auf wackligen Füßen. Daß sich die Olympia-Begeisterung der brasilianischen Bevölkerung angesichts dieser Umstände bislang in Grenzen hielt, vermag da kaum zu verwundern. Nennenswerte „NOlimpia“-Demonstrationen waren aber ebensowenig zu verzeichnen.

Erklären dürfte sich das nicht zuletzt mit der Banalität, die dem zweiten großen Sportereignis Brasiliens nach der Fußball-WM 2014 im Direktvergleich zu den politischen Turbulenzen des Frühjahrs innewohnt. Damals zogen Hunderttausende auf die Straßen, um wahlweise gegen den Korruptionsskandal der Rousseff-Regierung oder den unterstellten „Putsch“ ihrer Gegner zu protestieren. 

Daß die Olympischen Spiele trotzdem stattfinden können, dürfte vielen Brasilianern eher wie ein beruhigender Anschein von Stabilität erscheinen – obwohl die Fußball-WM bereits jetzt als Paradebeispiel angeführt wird, wenn es aufzuzeigen gilt, wie wenig sportliche Großereignisse ihren Austragungsländern letztlich nutzen.

Daß sich zu Brasiliens Problemen nun ausgerechnet der fern geglaubte IS-Terror hinzugesellt, macht die Spiele für Rios Stadtpräfekten Eduardo Paes aber erst recht zur Zitterpartie. Schließlich hatte Paes versprochen, Rio während der Spiele zur „sichersten Stadt der Welt“ zu machen. „Wenn Sie einen sicheren Ort im August besuchen wollen, kommen Sie doch nach Rio de Janeiro“, prahlte er gegenüber dem Sender RJTV.