© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Opposition zeigt sich kompromißbereit
Türkei: Sowohl die sozialdemokratische CHP als auch die nationalistische MHP marschieren zumindest kurzfristig Seit’ an Seit’ mit Erdogan
Marc Zoellner

Ganz in Rot und Weiß geschmückt präsentierte sich der Istanbuler Taksim-Platz vergangenen Sonntag. Es ist ein geschichtsträchtiger Ort: Denn genau im Zentrum des symbolbewußt im europäischen Teil der türkischen Millionenmetropole gelegenen Platzes findet sich, umringt von den Nationalflaggen der Türkei, eines der wohl bedeutendsten Denkmäler der kleinasiatischen Demokratie – das Cumhuriyet Aniti, das Denkmal der Republik; errichtet im Jahre 1928 zum Andenken an Mustafa Kemal Atatürk, den Staatsgründer der Türkei, und seine für damalige Zeit geradezu revolutionären Ideale einer prowestlichen, säkularen und insbesondere modernen türkischen Gesellschaft.

Über 300.000 seiner Anhänger hatten sich so auch an jenem Sonntag auf dem Taksim-Platz versammelt, um dem Ruf der kemalistisch ausgerichteten Republikanischen Volkspartei (CHP), der mit 133 Sitzen im Parlament größten türkischen Oppositionspartei, zu folgen. Erhaben blickte das Konterfei Atatürks von Postern und Plakaten, von T-Shirts und von Bannern auf die Menschenmenge herab. Der Platz schien förmlich in einem blutroten Meer an Fahnen zu ertrinken. 

Proteste gegen Erdogan bleiben aus 

Seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli waren da gerade einmal neun Tage vergangen, und die Schlagzeilen aus der Türkei von Verhaftungswellen im Militär, von erlassenen Notstandsgesetzen, von Ausreiseverboten und Entlassungen Zehntausender Beamter und Professoren sorgten weltweit für Furore.

 Doch die kemalistischen Demonstranten des Taksim-Platzes hatten sich nur bedingt zum Protest gegen die rigiden Sanktionsmaßnahmen der Regierung Erdogan versammelt. „Sämtliche unserer 133 CHP-Abgeordneten werden mit auf dem Taksim sein“, hatte Engin Altay, Fraktionsvorsitzender der Kemalisten im Parlament, vor der Veranstaltung angekündigt. „Doch wir sind nicht die einzigen Eigentümer der Demokratie. Jeder von euch hat zu diesem Treffen zu erscheinen, um der Welt zu zeigen, wie sehr die Türken ihre Demokratie verinnerlicht haben.“

Denn geschlossen, so erklärte Altay, stehe das gesamte türkische Volk hinter den Werten und Prinzipien seiner Republik. Er lieferte gleichzeitig Einblick in die Ängste und Befürchtungen vieler Türken seit dem versuchten Staatsstreich mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung; nämlich jenen vor dem „tiefen Staat“, der Unterwanderung der türkischen Staatsmaschinerie durch Gülen-treue Verschwörer, und der allzu großen Macht des Militärs über die eigene Nation. „Dieser Umsturzversuch hat einmal mehr bewiesen, wie wertvoll Demokratie und Freiheit für uns sind“, beschwor der CHP-Politiker.

In seiner plötzlichen solidarischen Haltung zum einstigen politischen Erzrivalen Erdogan steht Altay nicht allein da: Bereits in der Putschnacht hatte Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), seine Unterstützung des Präsidenten gegen die aufbegehrenden Militärs versprochen. „In dieser dunklen und schwierigen Zeit“, verdeutlichte Bahçeli vergangenen Donnerstag erneut, „wird die MHP kompromißlos Seite an Seite mit dem dem Staat und dem Volk sein, was auch immer die Kosten dafür sein mögen.“

„Die Menschen der Türkei – wir – verdienen es nicht, von Putschisten und antidemokratischen Regimes regiert zu werden“, schloß sich Figen Yüksekdag, co-Vorsitzende der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), der Verurteilung des Staatsstreichs an. Wie sämtliche im Parlament vertretenen Parteien gehörte auch die HDP mit zu den Unterzeichnern einer gemeinsamen, gegen die Putschisten gerichteten Erklärung der Abgeordnetenversammlung. „Es war eine selten gesehene Aufführung von Einheit“, urteilte Al-Jazeera-Korrespondentin Zeina Khodr später über diese erste Versammlung der vier türkischen Fraktionen. „Eine Einheit, von welcher die regierende AKP hofft, daß diese auch andauern wird.“

AKP vereinnahmt Atatürk für eigene Zwecke

Doch ganz so kompromißbereit wollte sich Yüksekdags Amtskollege Selahattin Demirtas nicht geben. „Gegen den Putsch zu kämpfen ist richtig und legitim“, mahnte der HDP-Chef am vergangenen Wochenende den türkischen Präsidenten. „Aber die Maßnahmen, die Sie ergriffen haben, werden den Weg für mehr Ungerechtigkeiten ebnen.“

Nicht wenige Türken sehen die harsche Vorgehensweise Erdogans gegen die Gülen-Bewegung allerdings unkritischer als der auf Menschenrechte spezialisierte Anwalt mit kurdischen Wurzeln. Für sie stellt die Zerschlagung der religiösen Heilsgruppe – die Schließung ihrer Schulen, Privatuniversitäten und Hospitäler, die Beschlagnahme ihrer Vermögen sowie die Säuberung der Beamtenapparate von ihren Anhängern – nicht nur allein einen Kampf der AKP-Regierung gegen den in der Türkei gefürchteten „tiefen Staat“ dar. Gleichzeitig, so die Argumentation seiner Anhänger, bekämpfe Erdogan damit auch den wachsenden Einfluß des islamisch-fundamentalistisch indoktrinierten Netzwerkes, welches hinter der oberflächlich auf soziale Gemeindearbeit fokussierten Gülen-Bewegung vermutet und von den Erdoganisten als eigentlicher Widersacher gegen die prowestlichen Ideale und Vorstellungen des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk betrachtet wird.