© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Das Bruttoinlandsprodukt unterschätzt digitale Wohlstandseffekte
Wir sind besser als gedacht
Dirk Meyer

Nobelpreisträger Robert Solow entdeckte das Produktivitätsparadoxon: Trotz digitaler Revolution und Industrie 4.0 hat sich der Produktivitätsfortschritt – der Anstieg der Wertschöpfung bei gegebenem Ressourceneinsatz – in den Industrie-ländern zwischen 2005 und 2014 gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt etwa halbiert. Entsprechend fiel das Wachstum der letzten 15 Jahre auf jährlich ein Prozent. Wie paßt das zusammen?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mißt die jährliche Summe aller bewerteten Waren und Dienstleistungen – ohne Vorleistungen, um Doppelzählungen zu vermeiden. Das BIP ist als Wohlstandsindikator brauchbar, wenn Eindeutigkeit vorliegt: Steigt das BIP, muß der Wohlstand steigen und umgekehrt. Bekannt sind Überschätzungen des BIP, die auf Umweltsünden und gesundheitsschädlichem Verhalten beruhen. Deren Reparatur geht in die Berechnung ein, obwohl die Kosten vermeidbar wären (Gesundheit) oder als Verbrauchsfaktor der Produktion (Umwelt) nicht berücksichtigt wurden. Andersherum kommt es zu Unterschätzungen, indem Hausarbeit, Heimwerken und Ehrenamt nicht erfaßt werden. Allein die Nichterfassung der Schattenarbeit weist das BIP um bis zu 15 Prozent zu niedrig aus.

Auch die Digitalisierung ist mit Eigenschaften verbunden, die die Wohlstandseffekte unterschätzen. Zum einen macht die Industrie 4.0 die Produktion kostengünstiger. Wenn dadurch der Preis für das gleiche Produkt um zehn Prozent sinkt, vermindert sich entsprechend sein Beitrag zum BIP – es sinkt. Häufig gehen mit der Digitalisierung zudem Qualitätsverbesserungen wie eine bessere Paßgenauigkeit, Energieeinsparungen, flexiblere Ausführungen etc. einher. Da sie jedoch häufig nicht zu höheren Kosten führen, werden sie im Regelfall auch keinen Preiseffekt haben – das BIP bleibt unverändert.

Wir greifen schnell auf Informationen aus dem Netz zu: die Google-Recherche, Auskunftsdienste, der Youtube-Film. Statistisch werden diese Internetdienste – da preisfrei – mit Null bewertet. Früher preisträchtige Produkte haben plötzlich freien Zugang bei teils größerem Nutzen: Wikipedia, Google-Maps und Musikstream statt Brockhaus-Lexikon, Stadtpläne und Musik-CDs. Die Bürosoftware von Microsoft wird durch sogenannte Freeware ersetzt. Darüber hinaus haben elektronische Plattformen wie Ebay und Amazon den Preiswettbewerb erheblich gesteigert – wieder ein statistisch wirksamer BIP-Rückgang.

Die unentgeltlichen Dienste in den USA werden auf jährlich 106 Milliarden Dollar geschätzt. Studien für Großbritannien ergeben einen Wachstumszuwachs von 0,35 bis 0,66 Prozent. Bezogen auf den einprozentigen Wachstumstrend heißt das: Wir sind besser, als uns das BIP zeigt.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.