© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Verdun, 29. Juli 1916
Vor hundert Jahren fiel mein Ur-Großvater in der Schlacht, die zum schrecklichen Sinnbild des Ersten Weltkrieges werden sollte / Eine Spurensuche von JF-Chefredakteur Dieter Stein
Dieter Stein

Verdun. Der Name jener französischen Festung steht wie kein anderer für die mechanisierte Vernichtung, die der Erste Weltkrieg in bis dahin nicht gekannter Weise entfesselte. Maschinengewehr, Flammenwerfer, Giftgas – verheerende neue Waffen revolutionierten den Krieg in furchtbarer Form. Knochenmühle, Blutpumpe – es sind grauenhafte Bilder, die mit dieser Schlacht an der Maas wachgerufen werden, die vom 21. Februar bis zum 19. Dezember 1916 währte, die über 300.000 deutsche und französische Soldaten verschlang – bei einem Gemetzel, das auf einer Fläche von lediglich 20 Kilometer Breite und zehn Kilometer Tiefe endlos hin und her brandete.

Im Schnitt täglich über eintausend gefallene, verstümmelte, zerhackte Soldaten. Ihre Leichen in einer von Granaten unzählige Male zerstampften Landschaft untergepflügt. Von Ratten und Ungeziefer gefressen. Wer kennt noch ihre Namen? Wer erinnert sich an ihr Schicksal?

Anders ist es, wenn dir aus dem grauen Heer von Hunderttausenden Toten eine einzelne Gestalt entgegentritt, die du erkennst. Mit der du sogar verwandt bist. So geht es mir: Ich verbinde mit Verdun ein Gesicht. Denn dort ist am 29. Juli 1916 mein Ur-Großvater im Alter von 35 Jahren gefallen. Theodor Stein, Hauptmann der Reserve und Kompaniechef im 6. Bayerischen Infanterieregiment. Er hinterließ eine Witwe mit sechsjährigem Sohn und zweijähriger Tochter.

In einem Karton lagern die Andenken an den Gefallenen. Vom Sohn an den Enkel, an den Urenkel weitergegeben. Fotos, Feldpostbriefe, Traueranzeigen, Zeitungsartikel, die Regimentsgeschichte, Korrespondenz der Angehörigen mit den Kameraden des Gefallenen. 

Vor dreißig Jahren besuchte ich mit meinem Vater Verdun. Ich erinnere das Beinhaus von Douaumont, das Schlachtfeld, die endlosen Reihen an Kreuzen auf den Soldatenfriedhöfen; der feierliche Ernst, mit dem wir den Ort besichtigten, die sonderbare Stille, die über den vernarbten, von niedrigen Bäumen zugewachsenen Hügeln lag.

Wer war dieser Ur-Großvater? Christian Heinrich Theodor Stein wurde am 13. April 1881 in Oberholzklau im Siegerland geboren als Sohn des Pastors und königlichen Kreisschuldirektors August Stein. Dem strengen Vater und Pastor von Krombach, so ist in Gemeindechroniken zu lesen, sei nach dem eigenen Militärdienst „das preußisch-deutsche Heer das vollkommenste Menschenwerk auf Erden“ geblieben. Nach dem Abitur begann Theodor Stein in Tübingen 1900 Theologie zu studieren und trat als Einjährig-Freiwilliger in das Königlich bayerische Infanterieregiment 19 in Erlangen ein. Als Pfarrer hätte er die Laufbahn eines Reserveoffiziers nicht einschlagen können, weshalb er nach dem zweiten theologischen Staatsexamen den Beruf des Lehrers ergriff. 1905 zum Leutnant befördert kam der Bataillonskommandeur 1907 nach einer achtwöchigen Übung zu dem Urteil, Stein zeige „immer und überall auffallende Frische und unveränderliche Hingabe an den Dienst“. Und: „Mit persönlich strammster Haltung verbindet er absolut sicheres, mannhaftes, entschlossenes Auftreten.“

Nach weiteren Übungen 1912 zum Oberleutnant der Reserve befördert, rückte er im August 1914 bei Kriegsausbruch in der Verwendung als Verpflegungsoffizier im Bataillonsstab mit seinem Regiment aus. Nach Kämpfen in Lothringen und bei Lunéville nahm er im September 1914 am Angriff auf die Maashöhen bei Hattonchâtel und bei Vigneulles und an der Erstürmung des Forts Camp des Romains teil, wofür er im Oktober 1914 mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet wurde.

»Ewig dies Grollen von Nord-West. Nachts die Blitze der feuernden Geschütze. Kind, ich denke an Dich.«

Am 18. Februar 1915 wird Stein zum Kompaniechef ernannt, am 10. April 1916 zum Hauptmann befördert. Sein Regiment lag bis Juli 1916 in Saint Mihiel, das die Spitze eines vorspringenden Frontkeils 30 Kilometer südöstlich von Verdun bildete. Seit September 1914 war die Westfront anderthalb Jahre in einem reinen Stellungskrieg erstarrt.

Im Februar 1916 stehen im Westen rund 2,4 Millionen deutsche 3,5 Millionen britischen und französischen Soldaten gegenüber. Der Chef des deutschen Generalstabs Erich von Falkenhayn will mit einem massierten Angriff auf Verdun die Front aufbrechen und feindliche Kräfte in großer Zahl binden, die dann den Alliierten für die befürchtete Offensive an der nordfranzösischen Somme fehlen würden. Nach anfänglichen Erfolgen und Geländegewinnen kam der Verstoß Anfang April zum Erliegen und die Schlacht fraß sich fest, sie hatte ihren strategischen Sinn verloren – trotzdem wurde unter unfaßbaren Opfern weitergekämpft.

Der Kriegsberichterstatter Eugen Kalkschmidt schildert für die Frankfurter Zeitung am 28. August 1916, welches Bild das Schlachtfeld vor Verdun bot: „Es ist die Hölle auf Erden. Das Inferno der Verdammten in Dantes Dichterlandschaft erscheint bürgerlich bewohnbar neben dieser Wahlstatt der fürchterlichen Vernichtung. Hier haust der Tod, und jede Spur des Lebens ist ausgetilgt, ausgebrannt mit glühenden Zangen. Die erstarrten Schollen der toten Erde breiten sich, eine braune Wüstenei, über Täler und Hügel unendlich bis an den Himmelsrand. (...) Wo sind die Dörfer? So weit das Auge reicht – kein Dach und kein Haus. Ein einsamer Balken steigt irgendwo aus dem hellen Schutt empor, der einmal Fleury war.“

Fleury – der Punkt, an den die deutschen Truppen am weitesten vordrangen und dessen Wüste den Körper meines Ur-Großvaters verschluckte. Was hatte ihn in den letzten Wochen bewegt, bevor ihn die tödlichen Kugeln trafen? Wie hat er diesen Irrsinn ausgehalten, mitgemacht?  

Seine fast täglich an seine Frau geschriebenen Feldpostbriefe spiegeln die Stimmung dieser Tage wider, die nur andeutungsweise das Grauen des Krieges aufscheinen lassen:


30. Juni 16: „Meine liebe Johanna! Blutiger Abendhimmel bei wilder Wolkenbildung, wie wir beide sie schon am Meer gesehen. Ich einsam zwischen Getreidefeldern und dann im Stall. (...) Ich dachte an Dich, die anderen und das andere und lege mich nun hin. (...) Ewig dies Grollen von Nord-West [Verdun]. Nachts die Blitze der feuernden Geschütze. Kind, ich denke viel an Dich. Wir sind doch beisammen, so wenig Gemeinsames wir auch sehen, hören, atmen. In treuer Lieb Euch alle grüßend, Dein Junge“


1. Juli 16: „Dieser Monat dürfte uns vor die hitzigste Aufgabe stellen. 10. Regiment hat von 56 Offizieren noch 23. Alle anderen tot oder verwundet. Ich teile die Zahlen nur mit, um gewissen nörgelhaften Reden zu begegnen. Ich rechne damit, daß wir in drei Wochen ähnliches abzulegen haben werden.“ 


3. Juli 16: „Die Engländer greifen an. Groß was ausrichten werden sie nicht. In einige Gräben kommen sie nun rein. (...) Unsere Sache stünde glänzend, wenn die Österreicher nicht so scheußlich schlapp geworden wären.“ 


8. Juli 16: „Demjenigen, der mir ein ausgezeichnetes Schinkenpaket sandte, meinen herzlichen Dank. Außerdem Dank Euch für einliegend quittierte Sachen.“


9. Juli 16: „Hier alles sehr ruhig. Frankreich braucht Munition anderswo. An der Somme halten sich unsere zusammengeschossenen Regimenter vorzüglich.“ 


10. Juli 16: „Liebe, teure Frau! Deinen guten Brief erhalten. (...) Ich weiß, wann und wofür, und in der Tat hat diese Art der Kriegsführung zur Schlachtbank etwas ... Ekelhaftes. Und doch muß es geleistet werden und vielleicht trägt man damit doch ein wenig von den Schulden ab, die man im Laufe seines Lebens und auch des Krieges auf sich lud. (...) Weine nicht, Frau, sondern sei stolz auf Dich u. das, was Du leistest. Du meisterst das Leben mehr wie ich.“ 


15. Juli 16: „Sollte ich fallen, dann ist jedem meiner Burschen ein Betrag von 100 Mark auszuzahlen, der an die Familie derselben fällt, wenn sie selbst fallen sollten. Welhauser, der heute Gefreiter wurde, hat als außereheliches Kind eine Mutter und eine Braut. Harrer hat eine völlig versorgte Familie, aber es kommt ihm zu. (...) Unsere Front stark berannt, Österreich läßt aus, wir müssen furchtbar dagegen stemmen. An der Somme brauche man auch Leute.“ 


Aufgehobene Einzahlungsscheine (siehe Abbildung) belegen, daß das Geld wie gewünscht ausbezahlt wurde.

 

17. Juli 16: „Du schreibst, sterben ist Leben. Gewißlich für den, der in Gott wurzelt. Neben diesen Satz stellst Du das mir so wertvolle Lied, mit dem die Preußen den Tag von Leuthen begannen. Dieser liegt mir näher. Und ich werde mit ihm leben oder sterben. Zu mehr bringe ich es nicht. (...) Weißt Du, uns ist zu Mute, wie dem Dichter des Liedchens „Anne-Marie“, der zu eigener Melodie gesungen von mir geliebt wird: 


1. Im Feldquartier auf hartem Stein

Streck’ ich die müden Glieder

Und sende in die Nacht hinein

Der Liebsten meine Lieder.

Nicht ich allein hab’s so gemacht

    Annemarie

Von ihrer Liebsten träumt bei Nacht

|: Die ganze Kompagnie. :| 


2. Den nächsten Wiedersehenstag 

Kann ich dir noch nicht sagen.

Wir müssen uns mit welschem Pack

Im fremden Land rumschlagen.

Vielleicht kann es schon balde sein

    Annemarie

Vielleicht scharrt man schon morgen ein

|: Die ganze Kompagnie. :|


3. Und trifft mich eine Kugel tot,

Kann nicht mehr heimwärts wandern,

Dann wein’ dir nicht die Äuglein rot

Und such dir einen andern.

Nimm Dir nen Burschen schlank und fein

    Annemarie

Es braucht ja nicht grad einer sein,

|: Von meiner Kompagnie. :| 

Leider kann ich Dir die Noten nicht schicken. Aber singen könnt’ ich Dir’s, und die Kompanie hat’s schon getroffen. Für heute Schluß, immer Dein Junge“


Vom 21. bis 23. Juli verlegt das Regiment von St. Mihiel über Chambley nach Ville-devant-Chaumont rund sieben Kilometer nördlich der Verdun-Front beim Thiaumont.


21. Juli 16: „Im Feldquartier auf festem Stein. Die Kolonnen fahren wieder mit verdeckten Aufschriften ihrer Fahrzeuge. Es ändert sich das Bild. (...) Das Wetter ist trocken und nicht schwül. Post läuft aus von dort. Aber nicht nach dort. Es ist mir ganz lieb, wenn ich nichts bekomme. Aber ich habe nicht eher Ruhe, bis daß ich an Dich, oder wenigstens einen von Euch geschrieben habe. Es geht mir augenblicklich von einem elenden Hunger abgesehen gut. Durst könnte ich löschen tue es aber nicht.“ 


23. Juli 16: „Liebe, gute Frau! Ich lebe noch gesund und munter unter äußerst dürftigen Verhältnissen, immer dichter geht’s nun. (...)  Es ist schwer, unsere Verhältnisse zu beschreiben. Begnüge Dich damit, daß ich noch lebe undDir kurz Meldung mache. Ich schreibe schlecht, weil ich einen verstauchten Daumen habe.“


Am 24. Juli wird das Regiment dem Alpenkorps der Angriffsgruppe Ost unterstellt.


26. Juli 16, früh 12 Uhr 30: „Eben Brief vom 17.7. erhalten. Ich lese ihn in einer Hütte des Waldes, den vor Monaten die Franzosen besetzt hielten. (...) Eigenartige Stimmung. Das ist nicht zu schildern, das muß man sehen. Um 2 Stunden erwarten wir Fliegerangriff.“


26. Juli 16 [vermutlich nachmittags]: „Seit 8 Tagen Sonne und Durst. Die Leute müssen 4–6 Tage und Nächte mit uns draußen liegen abgeschnitten durch mehrere Sperrfeuerzonen, durch die einfach nichts durch zu bringen ist. Sie trinken teilweise das Wasser aus Trichtern, das 8 Tage steht. (...) Aber mit Gottes Hilfe muß es gehen. Mit Gottes Hilfe und mit schärfster Disziplin. Ich wollte, ich könnte Euch Genaueres schreiben. Doch darf es nicht sein. Angreifen ist hier das wenigste. Das Liegen das Schlimmste. (...) Was man hier braucht, ist Tee, Schokolade, nicht zu sehr gesalzene Konserven (Ölsardinen). 

Übermorgen geht’s vor in die vorderste Gegend. 

In Liebe Dein Junge“

In der gleich nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Geschichte des 6. Bayerische Infanterie-Regiments schildert Hauptmann Georg Lang den Einsatz der Einheit, mit der Stein in die vorderste Linie zog: 

„Am Abend des 28. Juli 1916 lugt vorsichtig der Anfang der 6. Kompanie zum Nordausgang des Forts Douaumont hinaus: Man will den Steilhang erreichen, um von hier aus in die Stellung bei Fleury vorzurücken.

Wie gewöhnlich läßt auch heute das Feuer um diese Zeit etwas nach. Mann hinter Mann steigen wir in die Granattrichter, klettern auf allen vieren wieder hoch, steigen wieder herunter; ein Drahtstück rankt sich um die Beine, man fällt hin, der Hintermann fällt auf den Vordermann hinauf, auf Händen und Knien kriecht man wieder hoch. Da schlägte eine Granate neben uns ein; wir suchen zu laufen, fallen wieder hin, der Stahlhelm rutscht ins Genick, man verliert die Sandsäcke mit der Verpflegung; man rafft sie wieder zusammen und setzt mühsam den Weg fort. Nach einer halben Stunde sind wir am Steilhang, auf ebenem Boden hätte man nicht länger als fünf Minuten brauchen dürfen.

Am Steilhang erwarten uns die Wegführer für die Stellung. Und den Fortberg hinunter geht es in der ‘Reihe zu Einem’. Der Platz, auf dem einst das Dorf Douaumont gestanden war, unterscheidet sich in nichts von der übrigen Gegend. Im Halbdunkel sieht man einen Haufen Leichen liegen. Es entspringt hier eine dünne Quelle. Wahrscheinlich waren es Schwerverwundete, die sich dorthin geschleppt und sich hier verblutet haben. Man fällt in die Granattrichter, gleitet auf den verwesenden Leichen aus. Rechts und links, vor und hinter uns sausen die Granaten in den Boden. Ab und zu streut ein feindliches Maschinengewehr herüber. Wer von dem engen Fußpfad sich entfernt, ist verloren. Ein Verwundeter, der nur fünf Meter von dem Steig entfernt liegen bleibt, wird von keinem Krankenträger mehr gefunden!

Die Wegführer der 4. Kompanie, die wir haben, machen ihre Sache ausgezeichnet. Fast ohne Verluste kommen wir in die Stellung. Von einem Graben ist keine Spur zu finden. In einer unzusammenhängenden Granattrichterlinie wird die Kompanie untergebracht. Je zwei bis drei Leute bilden die Trichterbesatzung. Unendlich schwer ist es für den Führer, die Verbindung innerhalb der Truppe zwischen den Trichtern aufrechtzuerhalten. Lücken in der Stellung aber bilden die größte Gefahr des feindlichen Durchbruchs.

Das Artilleriefeuer auf der vordersten Linie ist erträglich: der französischen Artillerie ist wahrscheinlich der Verlauf ihrer vorderen Linie ebenso unklar wie der deutschen der Verlauf der unsrigen; beide getrauen sich nicht, die gegnerische Infanterielinie wirksam zu beschießen. Die Gefahr, die eigenen Kameraden totzuschießen, ist zu groß. Hinter unsere Stellung aber, in die Grundmauern des Dorfes Fleury, jagt der Franzose Schuß auf Schuß aus den gröbsten Kalibern. Die Erde schwankt und zittert: wir haben ein Gefühl, als wenn wir auf Teig säßen.

Die Nächte sind empfindlich kalt. Da ständig MG-Feuer die Trichterränder abfegt, kann man sich auch keine Bewegung schaffen. Leider zu viele Leute müssen den Versuch mit dem Leben bezahlen. Infolge der ungeheuren Nervenanstrengung hat man kein Bedürfnis zur Nahrungsaufnahme. Das rötliche Fleisch und der typische Geruch der Konserven erinnern auch zu lebhaft an Menschenleichen. Mit Vorliebe ißt man Dörrobst; es benimmt, im Munde behalten, den Durst.

Die Verbindung mit dem Bataillon ist tagsüber vollkommen zerstört: die Fernsprechleitung ist mehrfach abgeschossen; auch kann kein Meldegänger das Granatloch verlassen; nach dem ersten Schritt würde er vom feindlichen Scharfschützen niedergestreckt sein.“ 

Zur Pflicht der Einheiten gehört es, den Hinterbliebenen den Tod der Kameraden zu melden. Es berührt, wie ausführlich sie dieser Aufgabe nachkamen. So schildert am 3. August 1916 Leutnant Holthaus, der selbst wenig später am 25. September 1916 in Gueudecourt an der Somme fällt:

„Tief erschüttert muß ich Ihnen die traurige Nachricht geben, daß Ihr Herr Bruder, mein lieber Hauptmann, nach schwerer Verwundung gestorben ist.

Das Regiment lag südlich Fleury. Abends 11 Uhr erhielt die Kompanie Machinengewehrfeuer und Herr Hauptmann fiel von drei Kugeln durch den Mund getroffen. Er verlor sofort sein Bewußtsein und im Granatloch bewacht von seinen beiden Zugführern Leutnant Büttner und Leutnant Buchner starb er gegen 1 Uhr. Das Bewußtsein hat er nicht wieder erlangt.

Infolge der ungemein schweren Feuers war es unmöglich, den Leichnam zurückzuschaffen, da allein zweieinhalb bis drei Stunden im Sperrfeuer zurückgelegt werden müssen. An der Spitze seiner Kompanie, wo er starb, liegt er begraben. Möge er, der Besten einer, im Frieden ruhen!“

»Seine Leiche ist wohl längst auf dem ungeheueren Totenacker untergepflügt.«

Der erwähnte Leutnant und Kompanieführer Buchner schreibt am 20. August ebenfalls an Steins Bruder. Buchner wiederum fällt am 29. September 1916 in Gueudecourt an der Somme:

„Zu Ihrer Anfrage vom 10. August 1916, ob es nicht möglich sei, Ihren Bruder, Hauptmann Stein, bei der Ablösung zurückzubringen, und ihn in Ruhestellung des Regiments zu beerdigen, möge Ihnen folgende Notiz eines Offiziers der 7. Kompanie als Auskunft dienen: ‘Herr Hauptmann Stein starb in dem selben Granatloch, in dem ich mich befand. Dort lag er bis zum 1. August 1916. Bei dem Versuch, die Leiche zu bergen, wurde Infanterist Schatz durch Infanteriegeschoß getötet. Infanterist Schintz schwer verwundet. Daraufhin wurde der Bergungsversuch aufgegeben, die Leiche in einen unbesetzten Trichter geschafft und mit Erde bedeckt. Heftiges Maschinengewehrfeuer verhinderte auch bei der Ablösung ein Zurückschaffen des Toten.“ 

Leutnant Büttner schreibt am 21. August 1916: „Am 26. Juli erhielt die Kompanie den Befehl, in die Bereitschaftsstellung ‘Küchenschlucht’ abzurücken. Da von höherer Stelle angeordnet war, daß die Kompanien nur mit einer Gefechtsstärke von 120–130 Gewehren und zwei Offizieren ausrücken sollten, wurde ich von Hauptmann Stein, der mich halb im Scherz, halb im Ernst als seinen erklärten Nachfolger bezeichnet hatte, bestimmt, bei dem Rest der Kompanie im Ruhelager Chaumont zurückzubleiben. Das zunächst folgende kenne ich daher nur aus den Schilderungen der Beteiligten und aus den dienstlichen Meldungen, die mir nachher darüber gemacht wurden.

Am 26. rückte die Kompanie noch weiter vor in die Bereitschaftsstellung ‘Steilhang’, am 27. auf das Fort Douaumont als Brigadereserve. Am Abend des 28. zog die Kompanie gleichzeitig mit zwei anderen des Bataillons in die vordere Linie. Das Durchschreiten der am meisten gefährdeten Sperrfeuerzone gelang, da nur geringes Artilleriefeuer herrschte, ohne Verluste. Bei der Annäherung an die vordere Linie wurde jedoch der Gegner unruhig und begann das Gelände mit Maschinengewehrfeuer abzustreuen. Nun galt es, trotz der Störung für den Kompanieführer die Mannschaften in der Hand zu behalten und an die richtige Stelle zu bringen. Die Führer, die der Kompanie als Wegweiser mitgegeben waren, wurden, da das Gelände nur ganz geringe Anhaltspunkte aufweist, ihrer Sache unsicher. Um wenigstens so viel Übersicht über das Gelände und seine Mannschaften zu haben, als das schwache Sternenlicht zuließ, legte Hauptmann Stein den ganzen Weg aufrecht gehend zurück. Als er eben die Stelle erreicht hatte, an der sich der abzulösende Kompanieführer befand, traf ihn ein Maschinengewehrstoß durch die Stirn. Schon nach wenigen Minuten war das Leben vollständig erloschen.

Schon am Morgen des 29. Juli drang nach Chaumont das Gerücht, daß Hauptmann Stein, schwer verwundet sei, und mittags wurde mir durch Regimentsbefehl die Führung der Kompanie übertragen. Ich machte mich sofort auf den Weg zur vorderen Linie. Am Steilhang wartete ich den Beginn der Dämmerung ab. Schon hier bietet die Gegend dem Auge ein überwältigend trostloses Bild. Granattrichter liegt unmittelbar neben Granattrichter. Das bißchen Zwischengelände ist so dicht mit dem von den Geschossen aufgeworfenen Erdreich bedeckt, daß alle Vegetation erstickt ist und die Hügel-Wellen und Täler wie ein ausgedorrter riesenhafter Acker erscheinen. (...)

Wegmarken sind ein durch die Geschosse schon halb abgetragener Bahndamm und eine Stelle, an der die Erdmassen mit behauenen Steinen und Balkenresten durchsetzt sind: Das ehemalige Dorf Fleury. (...)

Von hier zur vorderen Linie sind noch etwa 200 m. Es führt weder Steg noch Graben dahin. Die Franzosen liegen 150 m gegenüber und schiessen nahzu ununterbrochen Leuchtraketen ab. In den kurzen Pausen von 5–15 Sekunden zwischen dem Aufleuchten springt man von Granattrichter zu Granattrichter und wirft sich zu Boden, sobald eine neue Leuchtrakete erscheint. Endlich kommt man an einen Trichter, in dem ein paar Soldaten hocken. (...) das ist die vordere Linie. (...) Am Rande eines Trichters hatte die Kugel Hauptmann Stein erreicht. Sein Körper lag, in eine Zeltbahn eingehüllt, ebenfalls auf dem Grund des Trichters. In der folgenden Nacht auf den 31. Juli gab ich den Befehl, die Leiche zur Bataillonsgeschäftsstelle zurückzuschaffen. Von den hierzu befohlenen Leuten wurde der eine beim Hineinsteigen in den Trichter durch Maschinengewehrfeuer an Oberschenkel und Hand verwundet. Dann wurde die Leiche über den Trichterrand gehoben. Da fiel ein zweiter der Bergungsmannschaften durch Bauchschuß. Ich mußte meinen Befehl widerrufen (...) Der Ort, an dem Hauptmann Stein fiel, ist noch nicht wieder in unserer Hand. Seine Leiche ist wohl schon längst auf dem ungeheuren Totenacker untergepflügt. Sie liegt inmitten Tausender, die Hauptmann Stein als Kameraden betrachtet und behandelt hat.“ 

In ihrem Tagebuch notiert die  Witwe, Johanna Stein:

16. August 16: „Heute morgen schickte der Feldwebel ein Paketchen. Portemonnaie, darin der Ring. Dann das Brustbeutelchen, das Band daran hinten voll Blut. Von der Wunde, die die Kugeln machten. O, das war schwer. Das Beutelchen hing ich mir am liebsten nun auch um den Hals, u. das Ringlein lasse ich nicht wieder von mir. Er war an Deiner Hand, als Du von den Kugeln durchbohrt niedersankst und vielleicht faßte Deine Hand noch nach der Wunde. Immer schreibe ich nun dies, als spräche ich mit Dir – und ich schreibe doch nur von Dir, über Dich.“

Nach Ende des Weltkrieges wurden die sterbliche Überreste von Theodor Stein wie die Abertausenden anderer geborgen. Er liegt in einem Kameradengrab auf dem Soldatenfriedhof von Hautecourt-lès-Broville, westlich von Fleury.

Fotos: Feldpost von der Front: Alle paar Tage ein Lebenszeichen an die Lieben daheim; Theodor Stein (M.) als Oberleutnant mit seinen Zugführern (oben): Februar 1916, vermutlich Saint Mihiel, 30 km südöstlich von Verdun, wo das 6. Bayerische Infanterieregiment bis Anfang Juli 1916 stationiert war. Im April Beförderung zum Hauptmann. Alarmübung (unten): Theodor Stein (2.v.l.) mit Offizieren bei einem 18-Kilometer-Marsch; Beschriftung auf der Rückseite der Aufnahme (oben): „29. Mai 1916, Granateinschlag im Mörsertal, wo wir jetzt täglich exerzieren. Nur keine Angst.“ Theodor Stein nahm vom 4. bis 20. Juli 1916 an einem zweiwöchigen Kurs zur Ausbildung von Sturm- bzw. Stoßtruppabteilungen teil. Hierfür sollten laut Bataillonsbefehl „nur äußerst schneidige Dienstgrade und Mannschaften ... kommandiert werden“. Das Ende der Ausbildung fiel mit dem Abrücken des Regiments aus Saint Mihiel zusammen, ab 24. Juli lag die Einheit vor Verdun in Stellung. Ausritt, vermutlich Frühjahr 1916 bei Saint Mihiel (unten) ; Theodor Stein in einer Stellung 1915 bei Saint Mihiel, südöstlich Verduns; rechts der Brief eines Offizierskameraden an den Bruder des Gefallenen: „Abends elf Uhr erhielt die Kompanie Maschinengewehrfeuer und der Hauptmann fiel von drei Kugeln durch den Mund getroffen“