© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Pragmatiker ohne Alternativlosigkeit
Die Historiker Greg Grandin und Niall Ferguson bewerten die Vita des US-Politikers Henry Kissinger höchst unterschiedlich
Peter Seidel

Henry Kissinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon, ist umstritten vor allem wegen seiner Beteiligung an der Ausweitung des Vietnamkrieges auf Kambodscha, der Weihnachtsbombardements auf Hanoi und bei vielen auch durch den Militärputsch in Chile gegen Salvador Allende. Geschätzt wird der Friedensnobelpreisträger nicht zuletzt wegen seiner Entspannungspolitik mit der Sowjetunion. Weniger bekannt ist vielleicht die Ablehnung des republikanischen Politikers durch die frühen Neokonservativen, die aufgrund der „Niederlage in Vietnam eine konservative Reaktion gegen Kissinger auslöste“.

Links wie rechts war der spätere Außenminister nie unumstritten, und das ist teilweise noch heute so. Dies zeigen  die zwei sehr unterschiedlichen Neuerscheinungen des Historikers Greg Grandin von der New York University, von dem die einleitende Neocon-Analyse stammt, und seines Fachkollegen Niall Ferguson aus Harvard, Kissingers Alma mater. Grandin beschreibt „Kissingers langen Schatten“ auf der Außenpolitik noch des heutigen Amerika, während Ferguson den ersten Teil einer auf zwei Bände angelegten Biographie vorlegt, die mit Kissingers Amtsantritt 1968 endet und den recht kategorischen Untertitel „Der Idealist“ trägt.

Ob Kissinger Idealist oder Realist war wird von beiden Autoren unterschiedlich beantwortet. Beide lassen allerdings keinen Zweifel an seiner herzlichen Verachtung bürokratischer Politik, die sowohl den Hochschullehrer wie den Amtsträger kennzeichnete und die einen zentralen Platz in seinem Denken und Handeln hat, wie auch seine Memoiren zeigen: „In einer komplexen Bürokratie besteht die Neigung, die technische Komplexität zu übertreiben und den Umfang oder die Bedeutung politischer Lagebeurteilungen zu verringern; sie begünstigt den Status quo, (...) weil der immer den Vorteil hat, daß man mit ihm vertraut ist.“ Dies führe dazu, „eine bestimmte politische Linie vorzuziehen, nicht aber Alternativvorschläge vorzulegen“, die echte Vorschläge und nicht fingiert seien. Wenn es heute oft heißt, daß es für komplexe Probleme keine einfachen Antworten und auch keine Alternativen gebe, dann ist dies genau das, was Kissinger mit „bürokratischer Politik“ meinte.

Sein eigenes Handeln im Amt war davon nicht angekränkelt, polarisiert in den USA allerdings auch bis heute. So beschreibt Grandin in der Tradition der linken 68er Vietnamkriegsgegner und ihrer etablierten Nachfolger Kissinger als amoralischen Karrieristen, als „Wegbereiter der neuen Rechten“ und „Architekten des imperialen Amerika von heute“. Er macht ihn so zum Sündenbock für alles Handeln späterer Administrationen, ohne dies in zahlreichen Kapiteln schlüssig belegen zu können, wozu die deutlichen Schwächen im Aufbau der Arbeit beitragen. Dies gilt auch für die unzähligen Etikettierungen wahlweise als „Existentialist“, „Spenglerianer“, „utilitaristischer oder radikaler Relativist“ usw. Das bleibt bestenfalls akademisch! 

Ganz anders Ferguson, der uns Kissinger als „Idealisten“ verkauft, was zumindest insofern stimmt, als daß dieser den moralischen Faktor gerade im Umgang mit der Sowjetunion nie außer acht gelassen hat. Sein Buch leidet allerdings unter endlos erscheinenden Kapiteln über die Jugendjahre, wie dies in US-Autobiographien recht beliebt ist. Interessanterweise läßt Kissinger seine ebenfalls zweibändigen Memoiren erst 1968 beginnen.

Keine der Biographien kann als ultimativ gelten

Beide Autoren argumentieren mit vielen Zitaten aus den zahlreichen Schriften des früheren Harvard-Professors. Dies ist gerade bei Kissinger nicht unproblematisch, der im Amt nach eigenem Bekunden völlig neu anfangen mußte. Zu kurz kommt dabei die grundsätzliche Frage, inwieweit die Veröffentlichungen eines wenn auch renommierten Politikprofessors auf seine spätere Tätigkeit als verantwortlicher Politiker schließen lassen. Fergusons Untertitel hätte deshalb wohl besser „Der Theoretiker“ oder „Der politische Denker“ geheißen. Gerade in den USA mit ihrer langen idealistischen Tradition macht sich eine Dichotomie zwischen Idealismus und Realismus aber wohl besser. Insgesamt wird bei beiden Büchern deutlich, daß das „ultimative“ Buch über Kissinger noch nicht geschrieben ist, auch weil alte und noch aktuelle Emotionen dem  im Wege stehen. Doch vielleicht schafft Fergusons zweiter Band hier Abhilfe.

Die Frage stellt sich allerdings, warum die Emotionen heute noch bei der Bewertung Kissingers derart durchschlagen. Auf seine Beurteilung bürokratischer Politik als Hindernis wurde bereits hingewiesen. Dies gilt gerade für die Außen- und Sicherheitspolitik, das Hauptfeld seiner Tätigkeit. In Zeiten eines sich langsam, aber sicher entfaltenden Multilateralismus und einer sich in Folge herausbildenden neuen „Pentarchie“ auf der Weltbühne wird dieses Feld weiter an Bedeutung gewinnen. Die Annexion der Krim durch Rußland und die Annexionen Chinas im Südchinesischen Meer sind nur die rücksichtslosesten, Völkerrecht mißachtenden Beispiele kommender Konflikte. Gerade für die reichen Staaten des Westens, die mehr nach innen als nach außen blicken, dürfte dies noch manch unliebsame Überraschung bieten. Dies gilt naturgemäß vor allem für das in eine Krise schlitternde Europa. Es gilt aber auch für den Politikstil und die Organisation von Politik, wie Kissinger nicht müde wurde zu verdeutlichen.

Ob internationale Institutionen dem gewachsen sind, ist mehr als fraglich. Dies gilt weniger für die Nato, aber sehr wohl für Gremien wie die EU-Kommission und die Führung der EZB, die sich unkontrolliert immer mehr als politische Akteure verselbständigen und in Bereichen tätig werden, für die sie nicht geschaffen wurden. Das eigentlich Problematische daran ist aber: Nirgendwo zeigt sich das Versagen der politischen Eliten in Europa deutlicher als daran, daß die Politik immer bürokratischer und die Bürokratie immer politischer wird. Und wie die gegenwärtige Diskussion über die Entwicklung der EU selbst nach dem Warnschuß des Brexit bisher zeigt, muß man erhebliche Zweifel daran haben, daß sich dies grundlegend ändern wird.  

Wer sich gerade als außen- und sicherheitspolitisch Interessierter mit diesen Zukunfts- und möglicherweise Schicksalsfragen beschäftigen möchte, dem sei der politische Denker wie der politische Akteur Kissinger empfohlen. Und sei es, weil dabei auch deutlich würde, daß es wohl ohne bewußte Polarisierung und strittige Klärung entscheidender Fragen wie zum Beispiel der Massenmigration gerade in der Innenpolitik keine tragfähige Lösung geben kann. 

Dies galt, wie sich in den USA schon einmal gezeigt hatte, gerade für die Übergangsphase, welche zwischen den Präsidentschaften von Richard Nixon über Ronald Reagan zu George Bush sen. gemeistert wurde. Für jene, die es vergessen haben: Diese Übergangsphase erfolgreich zu durchschreiten war die unabdingbare Voraussetzung für das erfolgreiche Ende des Kalten Krieges, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Vereinigung der europäischen Nationen in der EU.

Wo die einen Schatten sehen, sehen andere das Licht. Dies gilt auch für Ferguson und Grandin. Wer sich aus der Sicht des beobachtenden Teilnehmers und des maßgeblichen Akteurs aus erster Hand auch und nicht zuletzt über den Anfang der von Kissinger und Nixon eingeleiteten schmerzlichen Transformation informieren will, sollte zunächst zu Kissingers eigenen Memoiren greifen. Der Eindruck von den Widerständen, an denen er sich damals abarbeiten mußte, ist durch nichts aus zweiter Hand zu ersetzen. 

Greg Grandin: Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe. Verlag C. H. Beck, München 2006, gebunden, 296 Seiten, 24,95 Euro

Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist, 1923–1968. Band 1. Propyläen Verlag, Berlin 2016, gebunden, 1.120 Seiten, Abbildungen, 49 Euro