© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Rechdschreipkaos
Orthographie: 20 Jahre nach der Rechtschreibreform ist die Bilanz verheerend
Thomas Paulwitz

Wo sind die Feierstunden zu zwanzig Jahren Rechtschreibreform? Wo sind die Hymnen der Feuilletonisten auf eine Reform, die endlich das Rechtschreiben erleichtert, das Lernen der Regeln vereinfacht und die Fehlerzahl drastisch verringert habe? Wo ist die Einladung für den Empfang bei der Kultusministerkonferenz, auf dem nach einer feierlichen Ansprache den verdienstvollen Reformern der Konrad-Duden-Orden verliehen wird?

Diese Feierlichkeiten gibt es nicht. Aus gutem Grund, denn die traurige Wahrheit sieht tatsächlich so aus: Die Rechtschreibreformer haben keines ihrer Versprechen halten können. Die Reform hat keine Verbesserungen gebracht, schlimmer noch: die Rechtschreibleistungen der Schüler sind laufend schlechter geworden. Die deutsche Rechtschreibung gleicht einem großen Müllhaufen, über den Gras gewachsen ist, auf einer nur dünnen Schicht Humus. Stochert man nur ein wenig, kommen die stinkenden Altlasten zum Vorschein. Statt einer Feierstunde wäre also eher eine Schweigeminute angebracht.

Kein Mensch kann die komplizierten Regelungen fehlerfrei beherrschen. Der Germanist Uwe Grund forscht seit vielen Jahren über die schulischen Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform. Jetzt hat er seine Ergebnisse in einem Buch dokumentiert. Demnach haben sich in Vergleichsdiktaten die Fehlerzahlen zwischen 1970/1974 und 2004/2006 annähernd verdoppelt. Dabei erweisen sich gerade die reformierten Bereiche der Orthographie als besonders feh-

lerträchtig: die Groß- und Kleinschreibung und die Getrennt- und Zusammenschreibung. Die Änderung der s-Schreibung, auffälligster Teil der Reform, hat die Zahl der Fehler nicht senken können, im Gegenteil: Bei der Unterscheidung von „dass“ (daß) und „das“ haben die Schüler mehr Schwierigkeiten als früher.

Freilich sind am heutigen Rechtschreibdesaster auch Irrwege schuld wie das Schreiben nach Gehör, eine verheerende Methode, nach der immer noch an vielen Grundschulen unterrichtet wird. Mit ihr prägt man sich zunächst Rechtschreibfehler ein, die man dann später wieder mühsam verlernen muß. Doch der Grundstein für die heutige Schreibverwirrung wurde vor zwanzig Jahren gelegt, als politische Amtsträger aus acht Ländern die Zwischenstaatliche „Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ unterzeichneten. Im selben Jahr 1996 ergab die erste Allensbach-Umfrage zur Rechtschreibreform, daß 75 Prozent der Deutschen die Rechtschreibreform ablehnten. Diese hohe Ablehnung sank auch in den folgenden Jahren nicht. Für die politisch Verantwortlichen war das jedoch kein Grund, von der größten sprachpolitischen Fehlentscheidung des 20. Jahrhunderts abzurücken.

Das Durchdrücken der Reform gegen den Willen des deutschen Volkes ist ein Musterbeispiel für das Durchsetzen einer scheinbar alternativlosen Politik. Es hatte verheerende Folgen für die Verfassung unseres Landes, daß diese antidemokratische Vorgehensweise von Erfolg gekrönt war. Zum ersten erwies sich, daß man politische Entscheidungen auch problemlos am Volk vorbei verwirklichen kann, ohne daß Konsequenzen zu befürchten sind. Rechtschreibchaos? Sparerenteignung? Flüchtlingskrise? Keine Regierung muß befürchten, wegen solcher Fehlentscheidungen abgewählt zu werden.

Zum zweiten zeitigte das antidemokratische Vorgehen einen kaum wiedergutzumachenden Vertrauensverlust gegenüber dem Staat. Höhepunkt der Volksverachtung und -verhöhnung war das nachträgliche Aufheben eines Volksentscheides. 1998 hatten die Schleswig-Holsteiner entschieden, die Rechtschreibreform aufzuheben. Nur ein Jahr später kassierte der Landtag diese Entscheidung – einstimmig. Er konnte sich dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1998 berufen. Der Prozeß vor dem höchsten Gericht war allerdings von Anfang an eine Posse gewesen, denn das Urteil stand schon vorher fest. Die Verfassungsrichter hatten zur Urteilsfindung 13 Institutionen angehört: nur zwei davon waren reformkritisch. Bei vielen Bürgern blieb schließlich der Eindruck haften, Widerstand lohne sich nicht, die Herrschenden machten ohnehin, was sie wollen.

Der Eindruck der Ohnmacht änderte sich nur für kurze Zeit, als es den Rechtschreibschützern im August 2004 gelang, die Axel Springer AG und das Nachrichtenmagazin Spiegel zur Abkehr von der Reform zu bringen. Die Kultusministerkonferenz handelte rasch. Sie löste die Zwischenstaatliche Kommission auf und setzte den Rechtschreibrat ein. Dieser rettete die Reform, indem er zahllose traditionelle Schreibweisen wieder zuließ, freilich ohne die reformierten Schreibweisen ungültig zu machen. Ein Variantenchaos entstand.

Zwanzig Jahre Rechtschreibreform bedeuten auch zwanzig Jahre Widerstand. Nun wollen es die alten Haudegen der ersten Stunde noch einmal wissen – etwa der Rechtschreibrebell Friedrich Denk und der Verleger Matthias Dräger. Im Oktober 1996 hatten sie auf der Buchmesse 300 Intellektuelle davon überzeugt, eine „Frankfurter Erklärung“ gegen die Reform zu unterzeichnen. 2016 kehren sie mit einer neuen Aktion auf die Messe zurück. 20.000 Euro Preisgeld setzen sie für einen Schreibwettbewerb ein. Die fünf besten Beiträge werden mit dem Frankfurter Orthographie-Preis ausgezeichnet. Als Preisrichter entscheiden unter anderem Lehrerverbandspräsident Josef Kraus, Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und der Schauspieler Mario Adorf. Das letzte Wort zur Rechtschreibreform ist also noch längst nicht gesprochen.