© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Pankraz,
Vitus Dröscher und der Mensch im Tier

Tiere sind auch nur Menschen“, sagte eine Freundin ganz beiläufig und etwas herablassend zu Pankraz, nachdem dieser ihren schneeweißen West Highland Terrier wegen seiner klugen Disziplin und innerfamiliären Anpassungsfähigkeit gelobt hatte. Der Satz machte stutzig. Würde nicht eher umgekehrt ein Schuh daraus; „Menschen sind auch nur Tiere“? Entfalten wir  Menschen beim Umgang mit Haustieren nicht einfach unser eigenes, uns von der Evolution eingegebenes, „tierisches“ Instinkt-Arsenal, mit dem unsere Katzen und Hunde spontan klarkommen und auf das sie sich einstellen und dem sie sich anpassen können?

Und was soll das „nur“ in dem Satz „Tiere sind auch nur Menschen“? Soll es etwa heißen, daß gerade unser „spezifisch Menschliches“, auf das wir uns soviel zugute tun, also freies logisches Denken und hoch komplexe, moralische oder ästhetische Gefühle, gar nicht spezifisch menschlich sind, daß auch Tiere „denken“ können und einen moralischen, beziehungsweise ästhetischen Sinn haben?

Mit dem „nur“ in dem Satz der Freundin wurde nun aber nahegelegt, daß Haustiere zwar durchaus denken und qualifiziert fühlen können, von diesen Fähigkeiten aber in voller Absicht (!) nur eingeschränkt Gebrauch machen, speziell dann, wenn „Herrchen“ oder „Frauschen“ das so wollen und es im Interesse eines gemütlichen, sorgenfreien Lebens allemal besser ist, ihnen zu gehorchen. Das Haustier verhält sich gegenüber seinem Herrchen exakt so, wie der Durchschnittsmensch sich gegenüber Gott verhält: Man gehorcht ihm, obwohl ein tolles Über-die-Stränge-Schlagen oft viel mehr Spaß und Genugtuuung bereiten würde.


In früheren Zeiten wurde das Verhalten der Tiere, ihr Gehorchen und Sich-Einfügen wie ihr Nichtgehorchen und Widerstandleisten, von den allermeisten Gelehrten schlicht geleugnet. Man erklärte sie zu an sich leblosen Gegenständen, deren Bewegung ganz und gar mechanisch geregelt sei. Die Rationalisten der frühen europäischen Neuzeit, Descartes & Co., setzten das Schreien eines von Menschen gequälten Tieres mit dem Quietschen von schlecht geölten Türen gleich und gingen völlig unberührt darüber hinweg. Der große Montaigne schrieb vergeblich dagegen an.

Später im Positivismus des 19. Jahrhunderts kam die Lehre von den „Instinkten“ auf. Das Innenleben der Tiere, so war man sich einig, werde ausschließlich und gleichsam automatisch durch Instinkte geregelt, ohne daß eine Individualität etwas dagegen tun könne.  Allein der Mensch, so die damalige „aufgeklärte“ Überzeugung, kann denken, das Tier hingegen (jedes Tier) folge lediglich Instinkten, von der Natur vorgegebenen physischen Antrieben, die alle seine Entscheidungen spontan und letztlich unbewußt regelten. Das Tier sei immer nur Objekt, niemals Subjekt eines ablaufenden Handlungsprozesses.

Inzwischen freilich hat sich die Verhaltensforschung geradezu explosionsartig ausgefaltet, wir verfügen über unzählige neue empirische Befunde, und alle laufen auf die Schlußfolgerung hinaus, daß es keineswegs eine deutliche Differenz zwischen Instinkt und Denken gibt. Früher hieß es etwa, Tiere könnten keine Werkzeuge anfertigen und das sei ein Beweis für ihre Denkunfähigkeit. Heute wimmelt es von ausgedehnten, sorgfältig dokumentierten Beobachtungen und Experimenten, die alle genau das Gegenteil bezeugen, und zwar nicht nur bei Schimpansen und Bonobos.

Krähen durchschauen die schwierigsten technischen Zusammenhänge, kalkulieren schlau und verfertigen die raffiniertesten Werkzeuge. Und fast das gleiche gilt sogar für gewisse Spinnen- und Käferarten! Die Ethologen befinden sich zur Zeit wie im Rausch, als wären sie altspanische Konquistadoren. Ein  Experiment jagt das andere, und alle liefern einschlägige, sensationelle Erkenntnisse über die raffinierte pragmatische Logik in der Tierwelt. „Willkommen, ihr Tiere, im Reich des Denkens!“

Alle Hunde-, Katzen-, Pferde- und Meerschweinchenbesitzer stimmen dem aus tiefstem Herzen zu, nicht weniger freudig als Delphintrainer und Papageienhaus-Verwalter. Sie haben es schon immer besser gewußt, haben unmittelbar erfahren und erfahren täglich neu, daß die Beziehungen zwischen Mensch und Tier keineswegs nur leicht abgewandelte Formen innertierischer, instinktiver Hierarchie-Antriebe sind, sondern tatsächlich zu echter Freundschaft und Liebe aufsteigen können, vielleicht sogar schneller als bei Menschen.


Um mit Vitus B. Drö-scher, dem begeisterten und trotzdem äußerst bedachtsamen Tierfreund und Autor zu sprechen: „Tiere haben nicht nur Verstand, sondern auch eine Seele.“ In Büchern wie „Die Erforschung der Tierseele“, „Magie der Sinne im Tierreich“ oder „Die freundliche Bestie“ hat er unzählige, äußerst einleuchtende Beispiele dafür gesammelt, und als ihn Pankraz einmal darauf hinwies, daß immer mehr moderne Zeitgenossen mittlerweile daran zweifeln, ob überhaupt und wenigstens der Mensch eine Seele habe, erwiderte er: „Tiere sind eben die besseren Menschen.“

Wahr daran ist auf jeden Fall, daß beide, sowohl Tier als Mensch, zur lebendigen Natur  gehören und daß diese Natur insgesamt eine „Seele“ hat, eine immaterielle schöpferische Kraft entfaltet, an der jede lebendige Kreatur teilhat, die eine mehr, die andere weniger. Das Denken verstärkt einerseits die Kraft, indem es sie abbildet, in sich reflexiv verdoppelt; aber es schwächt sie andererseits auch, indem es sich selbst von der primären Lebenswirklichkeit ablöst und sich dem Nichts nähert. „Das Tier“, schrieb Jean Paul in seiner Fragment gebliebenen „Selina“, „lebt gewiß weniger bewußt als der Mensch, aber es lebt tiefer in der Wirklichkeit.“

Jean Paul war es auch, der am selben Ort mit einiger Bitterkeit die dem Menschen überlegene Menschlichkeit des Tieres auf den Begriff brachte und so den Spruch „Tiere sind auch nur Menschen“ widerlegt: „Nur bei Tieren kann ich sicher rechnen, daß sie desto besser gegen mich sind, je besser ich gegen sie bin, bei Menschen nicht, ja oft umgekehrt.“