© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Die vergessenen Helden des Atomnotstands
Der japanische Ex-Premier Naoto Kan schildert, was hinter den Kulissen der Fukushima-Krise geschah
Albrecht Rothacher

Dieses Buch ist so spannend, daß man es nicht mehr aus der Hand legen kann. Fünf Jahre nach der Fukushima-Katastrophe gibt es bereits viele bewegende Erfahrungsberichte (JF 10/15) und jede Menge Kritik an der Atompolitik. Aber dies ist ein authentischer Blick hinter die Kulissen, der erklärt, warum die ersten Reaktionen so zögerlich waren und der ultimative GAU verhindert werden konnte. So wurde der damalige Regierungschef Naoto Kan zum Helden wider Willen. Frank Rövekamp, Leiter des Ludwigshafener Ostasieninstituts, hat diesen technisch schwierigen und politisch heiklen Text in eine sehr lesbare deutsche Prosa übertragen – die erste Übersetzung des Buches überhaupt.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Daß Kan überhaupt einen Rechenschaftsbericht vorlegt, ist ungewöhnlich für einen japanischen Premier. Aber er war auch kein Durchschnittspolitiker, der, in einen politischen Klan geboren, einen Wahlkreis geerbt hatte, sondern konnte sich, einer Bürgerbewegung und einer linken Kleinpartei (Shaminren) entstammend, in 40 Jahren Parlamentsarbeit zum Regierungschef hocharbeiten.

Das japanische System funktioniert wunderbar – für alle minutiös geplanten und vorhergesehenen Abläufe. Bei Unvorhergesehenem, wenn energisches Improvisieren gefragt ist, läuft es völlig aus dem Gleis. Und für einen AKW- Maximalstörfall war bewußt nichts vorgesehen worden, ihn durfte es nicht geben. Und, wie Kan zugibt, wären solche Übungen durchgeführt worden, wäre dies vom Atomkartell (LDP-Langzeitregierung, Herstellern und Energiekonzernen) als Eingeständnis gewertet worden, daß es solche undenkbaren Unfälle doch geben könnte.

Deshalb unterblieben sie – auch nach dem Bau von 54 AKWs innerhalb von 40 Jahren. Die gleiche Sorglosigkeit gab es bei den beiden Fukushima-Kraftwerken: unterschiedliche Reaktoren einschließlich eines mit Plutoniumbetrieb, drei Hersteller (General Electric, To­shiba, Hitachi) sowie kaum gesicherte Abklingbecken für Hunderte verbrauchte Brennelemente, denn auf eine Endlagerung für die nächsten 100.000 Jahre hatte man sich nicht einigen können. Und schließlich die Hauptsünde: Notstromaggregate, die, in einem Untergeschoß untergebracht, sogleich geflutet wurden und dauerhaft ausfielen. Mit dem Ausfall der Kühlsysteme war die Kernschmelze eigentlich programmiert.

Kan hielt die dann notwendige Massenevakuierung des Großraumes Tokio und des gesamten Nordteils der Hauptinsel Honshu (Tohoku) für unmöglich: 30 bis 50 Millionen Menschen binnen weniger Tage dauerhaft nach Südjapan zu transportieren – das wäre das Ende Japans gewesen. Dabei geht er auf die langfristige Unbewohnbarkeit der Hälfte Honshus und die globalen Folgen nach der Enthauptung der japanischen Finanz- und Exportindustrie, die alle ihre Entscheidungszentralen in Tokio konzentriert haben, nicht einmal ein. Ein solcher Evakuierungsplan wird nicht entworfen: er würde bei Bekanntwerden nur Panik auslösen. Wiederum kann nicht sein, was nicht sein darf.

Das tatsächliche Katastrophenmanagement verlief daher absehbar chaotisch. Vom Erdbeben am 11. März 2011 wurde Kan bei einer Ausschußsitzung des Oberhauses überrascht, bei der er – wegen einer Spende eines „Ausländers“, eines in Japan geborenen Koreaners – politisch gegrillt wurde. Zunächst stehen das Tohoku-Erdbeben und die folgende Tsunamikatastrophe zusammen mit 19.000 Toten, 2.500 Vermißten und 122.000 zerstörten Gebäuden im Vordergrund. Erst später wird klar, daß es auch in Fukushima Probleme gibt. Doch der AKW-Betreiber Tepco wiegelt ab.

Der Konzern ist regionaler Elektrizitätsmonopolist mit einem für ihn glänzenden und überaus einträglichen Geschäftsmodell. Sein Management pflegt die Geheimhaltung und ist mit Medien- und politischer Manipulation bestens vertraut – weniger allerdings mit den technischen Abläufen in AKWs, wie Kan bald feststellen muß. Auch bei der für Katastrophenfälle zuständigen Atomkontrollbehörde findet er an der Spitze nur verdiente Generalisten, die aber technisch ahnungslos sind. Auch im Wirtschaftsministerium Meti muß Kan lange suchen, bis er wirkliche Atomexperten findet. Er stellt schließlich seinen eigenen alternativen Beraterstab aus den technischen Hochschulen zusammen.

In letzter Minute das Schlimmste verhindert

Als schließlich eine Wasserstoffexplosion der nächsten folgt, werden die Anwohner im Radius von drei, dann zehn und schließlich 20 Kilometern evakuiert. Allerdings unabhängig von der Windrichtung, die, für Tokio segensreich, stets von Südost nach Nordwest bläst. So werden viele Leute im Süden völlig überflüssig evakuiert, während viele im Nordwesten ohne jede Warnung noch tagelang überhöhte Strahlungsdosen erhalten. Schließlich wird die Flutung durch Meerwasser eingeleitet.

Auch kann dank gesprengter Dächer mit Militärhubschraubern Kühlwasser auf die Reaktoren und Abklingbecken, die auszutrocknen drohen, geworfen werden. Über 100.000 Soldaten werden schließlich mobilisiert. Sie, die Feuerwehrleute, Polizisten und die Tepco-Arbeiter vor Ort sind die eigentlichen Helden jenes Dramas, die das Schlimmste für Japan und die Welt in letzter Minute mit viel Glück verhindert haben.

Kan besucht Fukushima während der Katastrophe, schließlich muß er die Entscheidungen treffen und verantworten. Normalerweise stört ein solcher Katastrophentourismus nur die Abläufe. Hier nicht. Er findet vor Ort alle Informationen, die er braucht und in Tokio nicht erhält. Schließlich besucht er auch das Tepco-Krisenzentrum – und auf dessen Monitoren, nur 15 Minuten Fußweg von seinem Büro entfernt, sieht er alle Daten und Vorgänge live, die seinem Amt nur verspätet und bürokratisiert geliefert werden. Als Tepco dann die Situation in Fukushima für nicht länger kontrollierbar hält und den Rückzug anordnen will, befiehlt Kan das Ausharren: Bei einem Großfeuer oder einem Chemieunfall kann man sich zur Not zurückziehen, bei einer AKW-Havarie würden aber wegen der Kettenreaktionen immer höhere Temperaturen und Strahlungen entstehen – ohne absehbares Ende.

Die Reaktion des Auslands kommt nur am Rande vor. Hilfslieferungen, die „Operation Tomodachi“ der US Army, die Tsunami-Opfer aus dem Pazifik fischte und als erste das Ausmaß der Verstrahlungen bekanntgab, sowie internationale Politikeranrufe (aus Europa nur Nicolas Sarkozy) werden höflich erwähnt. Kan unternahm zwar einige vergebliche Versuche, eine überparteiliche Krisenregierung zu bilden, doch schon im September 2011 wurde er nach nur 15 Monaten Amtszeit nach einer Palastrevolte von seiner eigenen Demokratischen Partei (DPJ) gestürzt. Immerhin gelang es ihm noch, eine unabhängige AKW-Überwachung im Ministeriumsrang, die Überprüfung der japanischen Energiepolitik und einen Nachtragshaushalt für die Opfer und den Wiederaufbau auf den Weg zu bringen. 

Kan hat sich seither vom bedingten Anhänger des Atomstroms („Übergangstechnologie“) zum entschiedenen Gegner gewandelt: Die Technologie sei unbeherrschbar, zu teuer und bei Katastrophen im dichtbesiedelten, erdbebengefährdeten Japan zu riskant. Dabei begrüßt Kann den deutschen Atomausstieg. Die Begründung Angela Merkels, wenn Japan als Hochtechnologieland AKWs nicht meistern könne, seien sie wohl unsicher, ist im Lichte von Kans Darstellungen im tsunamifreien Deutschland jedoch nicht nachzuvollziehen.

Naoto Kan: Als Premierminister während der Fukushima-Krise. Iudicium Verlag, München 2016, 165 Seiten, broschiert, 14,80 Euro