© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Selfies statt Schießbefehl
13. August: Am Jahrestag des Mauerbaus trafen in Berlin Welten aufeinander
Christan Dorn

Berlin, Brandenburger Tor am 13. August – 55. Jahrestag des Mauerbaus: Gedenkveranstaltung der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) und des Fördervereins der Gedenkstätte Hohenschönhausen – mitten im Mekka des Selfie-Messianismus. Kein Augenblick vergeht, da nicht unzählige Menschen, zumeist Paare, vom Osten, dem Boulevard Unter den Linden kommend, dem Brandenburger Tor den Rücken zudrehen, um mit ihrem Smartphone ein Selfie mit dem 1791 fertiggestellten Tor und der auf ihm thronenden Quadriga zu machen. 

Daß Vergleichbares noch bis zum Jahr 1989 angesichts der DDR-Grenzanlagen schier undenkbar gewesen wäre, daran erinnerte an diesem Tag Dieter Dombrowski, Vizepräsident des Brandenburger Landtages (CDU) und UOKG-Bundesvorsitzender, der selbst – unter anderem wegen versuchter Republikflucht – zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war.

Bis heute kämpfen die Opfer der DDR-Haftanstalten für eine angemessene Anerkennung ihres Leidens. Daher fordern UOKG und der Förderverein der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen endlich zu entschädigen und gesundheitliche Haftfolgeschäden bei der Rente anzuerkennen. Dombrowski mahnte, die Politik müsse hier für die Opfer deutlich mehr tun, „so weit es nur irgendwie geht“. Er verwies auf das generelle Menschenrecht der Ausreise, daß niemand das Recht habe, es einem Menschen zu verbieten, der seine Heimat verlassen will. 

Beispielhaft steht hier das Schicksal des Westdeutschen Rolf Kranz, der 1980 wegen Fluchthilfe in der DDR zu 21 Monaten Haft und 15 Tagen verurteilt wurde. In der Haft war Kranz zur Zwangsarbeit herangezogen worden, ohne Atemschutz vor den giftigen Lösungsmitteln. Die Propaganda der DDR-Nostalgiker, die die Mauer als angebliche „Friedensgrenze“ verteidigen, brachte er knapp auf den Punkt: „Völliger Blödsinn: Den Frieden gerettet – die Menschen eingesperrt.“ Über 25 Jahre, ein Vierteljahrhundert lang, so Kranz, sei ihm die Anerkennung als politischer Häftling verweigert worden. Die Anerkennung der gesundheitlichen Folgeschäden durch die Zwangsarbeit aber erscheine bis heute schier unmöglich.

 „Den Frieden in               der Welt bewahrt“

Neben der Kritik der unbefriedigenden Entschädigungsgesetze forderten die Veranstalter eine deutlich ausführlichere Behandlung der DDR-Diktatur in den Schulen. So unterstrich Jörg Kürschner, Stiftungsvorsitzender des Fördervereins Gedenkstätte Hohenschönhausen, daß der Meinungsterror der deutschen Kommunisten, deren Diktatur nahtlos an das Ende des Nationalsozialismus anschloß, bereits vor dem Mauerbau 2,6 bis 2,8 Millionen Menschen zur Flucht in den Westen veranlaßte. Entgegen anderslautenden Behauptungen verwies er auf den Schießbefehl an der Grenze durch Armeegeneral Heinz Hoffmann, der im Oktober 1962 dekretierte: „Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren.“ Zuletzt mahnten die beiden DDR-Opferverbände, daß die Verharmlosung der DDR ein Ende finden müsse. 

Wer dies für eine Selbstverständlichkeit hält, sieht sich an diesem Tag freilich getäuscht. So hat sich gegenüber den SED-Opferverbänden am Pariser Platz der dubiose Verein „Unentdecktes Land e.V.“ aufgebaut, der in einem im Oval aufgestellten Spruchband verkündet: „Diese Grenze wurde aufgehoben, damit wir gemeinsam wieder in den Krieg ziehen.“ Die Veranstalter, junge Leute, unterstützt von ewiggestrigen SED-Genossen, behaupten allen Ernstes, der „antifaschistische Schutzwall“ von 1961 habe „den Frieden in der Welt“ bewahrt, während Deutschland heute wieder weltweit Angriffskriege führe. Entsprechend wird die Mauer von den sich „antiimperialistisch“ gebenden Aktivisten in Anführungszeichen gesetzt. Auf Nachfrage argumentiert ein DDR-Anhänger, daß in Paris durch die Polizei viel mehr Menschen erschossen worden seien als an der Berliner Mauer. Doch dies werde tabuisiert.

Eine junge Dame wird gefragt, wer denn eigentlich hinter dem Verein stehe, der offiziell keine Namen preisgibt. Sie seien alles Leute, die „noch sehr jung waren, als die DDR annektiert wurde“, meint sie daraufhin. Entsprechend schwierig gestalten sich die Versuche der hier verhöhnten DDR-Opfer, mit den Ewiggestrigen ins Gespräch zu kommen. Wolfgang Holzapfel, legendärer DDR-Gegner und Ex-Stasi-Häftling, der mit weiteren Gefährten die Auseinandersetzung sucht, wird – da sie mit Schildern protestieren – von der Polizei abgedrängt. Holzapfel kritisiert in diesem Zusammenhang besonders Bundespräsident Joachim Gauck, der nach seinem Amtsantritt alle DDR-Opfer vergessen habe. 

Wer dachte, daß damit der Spuk ein Ende hatte, sah sich am vergangenen Samstag allerdings getäuscht. Denn kaum waren die Veranstaltungen beendet, kreuzte vor dem Brandenburger Tor die „Kampfreserve der Partei“ auf: Ein Demonstrationszug der FDJ, in den blauen Hemden der totalitären Massenorganisation der SED-Jugend, begleitet von DDR-Fahnen und einem Militärlastwagen, trug das Banner „Für eine sozialistische Revolution“ – ordnungsgemäß eskortiert von der Berliner Polizei.