© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

„Sexuellem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet“
Türkei: Mit der Annullierung des Sexualstrafrechts setzt sich Ankara in ein schlechtes Licht / Zahl der Kinderehen auf Höchststand
Marc Zoellner

Das Wiener Außenministerium gab sich gewohnt kühl. „Wir nehmen die Reaktion der Türkei in dieser Angelegenheit zur Kenntnis, kommentierte Amtssprecher Thomas Schnöll lapidar, „verweisen aber in diesem Zusammenhang zugleich auf die Pressefreiheit.“ Die Reaktion – das war die empörte Einberufung des österreichischen Botschafters durch die Regierung in Ankara. Die Angelegenheit – die anhaltende Werbekampagne der auflagenstarken Kronen-Zeitung direkt über einer der Abflugtafeln im Flughafen Wien-Schwechat.

„Mit Türkei-Urlaub unterstützt man nur Erdogan“, lief Ende Juli die Schlagzeile über den Airportticker der Krone. Nun hieß es „Türkei erlaubt Sex mit Kindern unter 15 Jahren“. Auslöser dieser Schlagzeile war eine höchstrichterliche Entscheidung, die nicht nur in der Türkei selbst, sondern auch international auf massive Kritik stieß: Denn bereits vergangenen Monat hatte das türkische Verfassungsgericht, aufgrund des Putsches von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, mit sieben zu sechs Stimmen das geltende Sexualstrafrecht für Kinder und Jugendliche gekippt. 

Ankara wehrt sich gegen „Diffamierungen“

Waren geschlechtliche Beziehungen zu Kindern unter 15 Jahren bislang ausnahmslos verboten, so soll das Schutzalter fortan gesetzlich auf zwölf Jahre gesenkt werden. Das derzeitige Gesetz, so die Begründung der Richter, würde nicht zwischen den einzelnen Altersgruppen unterscheiden, sondern einen Vierzehnjährigen gleich einem Vierjährigen behandeln. 

Ab zwölf Jahren seien Kinder jedoch gut in der Lage, die Bedeutung einer sexuellen Handlung zu verstehen. Neben der Krone zeigte sich ebenso das schwedische Außenministerium entsetzt: „Das türkische Gesetz, welches Sex mit Kindern unter 15 Jahren erlaubt, muß rückgängig gemacht werden“, schrieb Ministerin Wallström auf Twitter. 

Ein Tweet, der gleich seinem Wiener Amtskollegen auch die Einberufung des schwedischen Botschafters in Ankara nach sich zog – und einer jener seltenen Fälle, in denen die Schlagzeile einer Zeitung eine offizielle Note der türkischen Regierung nach sich zog. 

„Der soziale Frieden in Österreich, wo mehr als 300.000 Menschen türkischer Abstammung leben“, würde massiv beschädigt, teilte das türkische Außenministerium mit. „Die Schlagzeile gibt nicht die Wahrheit wieder“, so Ankara. Zudem mißbrauche die Kronen-Zeitung den Wiener Flughafen, um „mit gefälschten Nachrichten ein befreundetes Land zu diffamieren“.Doch auch für Frauenrechtler wie Nazan Moroglu ist die Entscheidung des Gerichts ein Schlag ins Gesicht. „Sie wird dazu führen, daß Kinder noch anfälliger für sexuellen Mißbrauch und Vergewaltigung werden“, erklärte die Koordinatorin der Istanbuler Frauenvereinigung. Sie würde zudem dazu führen, daß noch mehr Mädchen zeitig heiraten, ohne eine Ausbildung anzufangen.

Ein bloßer Blick in die Statistik verdeutlicht das Problem: Denn in den rund 600.000 Ehen, die jedes Jahr in der Türkei geschlossen werden, wächst der Anteil jugendlicher Heiratspartner mittlerweile in großem Maß – von gut 40.000 Minderjährigen noch zu Beginn des Jahrzehnts auf beinahe 200.000 im Jahr 2015. Insgesamt zählt die Türkei bereits über dreieinhalb Millionen betroffene Mädchen und Frauen. „In unserer Gesellschaft“, beklagte sich die türkische Frauen- und Kinderrechtlerin Seda Bilen im Gespräch mit der Tageszeitung Hürriyet, „wird eine von drei Frauen im Alter von unter 18 Jahren verheiratet.“

Familiäre Geldnot, persönliche Perspektivlosigkeit, die krampfhafte Suche nach sozialem Halt – dererlei Gründe für Kinderehen finden sich insbesondere im vom Fortschritt abgehängten Osten des Landes zuhauf. Gerade die Armut treibt viele junge Frauen aus den unteren Milieus in die Arme älterer, wirtschaftlich prosperer Männer. Rund 82 Prozent von ihnen, ergab eine 2013 veröffentlichte Studie der Universität von Gaziantep, gelten als illiterat – mit beinahe 98 Prozent Gesamtanteil brechen türkische Mädchen deutlich überproportional ihre schulische Ausbildung vorzeitig ab, um zu ehelichen.

Der Staat indessen, kritisieren türkische Rechts- und Sozialwissenschaftler, käme seiner väterlichen Fürsorgepflicht nur noch ungenügend bis gar nicht mehr nach. Im Gegenteil verschleiere die AKP-Regierung aufgedeckte sexuelle Mißbräuche systematisch – so wie im Fall Muharrem Buyukturk. Der 54jährige Religionslehrer, der an einer Schule der AKP-nahen Ensar-Stiftung unterrichtete, wurde im April ob des Vorwurfs der mehrfachen Vergewaltigung von 45 Kindern zu über 500 Jahren Haft verurteilt. 

Familienministerin  verharmloste Mißstände 

Die Stiftung selbst, die vom Staat Zuwendungen in Millionenhöhe bezieht, erhielt von der damaligen Familienministerin Sema Ramazanoglu unverzüglich Absolution. „Aufgrund eines Einzelfalls“, erklärte die Politikerin, „dürfen wir die Stiftung nicht diskreditieren.“ Das hartnäckige Gerücht, die Ministerin habe angemerkt, „von einmal vergewaltigt zu werden, passiert doch nichts“, hielt Medienprüfungen zwar nicht stand. Gleichwohl – daß mindestens drei andere Fälle von Mehrfachvergewaltigungen durch Lehrkräfte der Ensar-Stiftung bekannt sind, verschwieg Ramazanoglu wohlweislich.

In Fragen des gekappten Sexualstrafrechts bei Kindern hat die türkische Regierung bis Januar kommenden Jahres noch Zeit, das geltende Gesetz dem Richterspruch anzupassen. Ob sie sich dabei dem wachsenden Protest in- und ausländischer Aktivisten beugen wird, ist jedoch fraglich. Denn Ankara, kommentierte Raheem Kassam, Chefredakteur der Nachrichtenwebsite breitbart.com, treffend, zeige sich „derzeit besorgter über die Berichterstattung zur Sache als über die Sache selbst“.