© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn

Torstraße, Sonntag abend: „Auf die BRD werfen wir Granaten – ist doch wahr, kann doch hier jeder machen, was er will.“ Der Typ, halb deutsch, halb Ausländer, an der Hand eine „Netto“-Tüte, entschwindet an der Straßenecke, wo das Hoffest von „Schokoladen Mitte“ ausklingt, ein Kulturprojekt, das sich dem Gentrifizierungsprozeß mit letzter Kraft erfolgreich erwehrt hat. An der Hausfassade prangen Transparente, deren Losungen den Ort als einen Hort der Unabhängigkeit und Freiheit markieren sollen, etwa mit der Drohung „Henkel weg von unseren Häusern“. Darunter spannt sich eine typisch versponnene linke Parole: „Sind wir eine Insel / legen wir das Meer trocken.“ Kein Wunder, denke ich, daß gleich nebenan der „Club der polnischen Versager“ sein Exil fristet.


Natürlich braucht es dafür auch eine geregelte Willkommenskultur. So stößt der Gast vor dem „Schokoladen“-Eingang auf ein Zutrittsverbot: „fascists, sexists and religious fanatics are not welcome here!“ In der Toilette findet sich neben dem Waschbecken ein Aushang, der an die Besucher appelliert, sich am Tresen zu melden, wenn man „Grenzüberschreitungen oder Diskriminierung“ erlebe. Daß das internationale Publikum direkt hier, an den Pissoirs des an beiden Seiten offenen Männerklos vorbeiläuft, muß demnach wohl als gendergerechte und daher selbstverständliche Grenzüberschreitung gelten. Weitere Warnschilder stellen den Ort und die Nachbarschaft unter die Regel „NO MEANS NO“. Und auf dem Hof verkündet über der Bühne ein Transparent die Losung: „Linke Freiräume sind nicht käuflich / Linie 206 bleibt“.


Dennoch pulsiert hier das Leben mit einer ungeheuren Vitalität. Am überzeugendsten zeigt sich dies beim Karaoke-Abend. Die verschiedensten Leute, die sich mehr oder weniger überwinden, um – wie etwa die stämmige junge Frau – „Highway to Hell“ von AC/DC zu schmettern, zeigen unversehens, daß die von Joachim Gauck – vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten – emphatisch eingeforderte „Selbstermächtigung“ hier, im Mut zur eigenen Stimme, ganz nebenbei erfolgt.


Mich inspiriert das alles nur zu der Zeile: „Reggae am Kiffhäuser / Wanderer, kommst Du ins Spa, mach Rast / a fari“. Währenddessen zieht es mich ins Café zu jener schönen französischen Studentin, deren Familienmitglieder zu den Stichwortgebern in Frankreichs gesellschaftspolitischer Debatte zählen. Ihr verspreche ich ein alternatives Geschichtsmodell: „Allons enfants de la Patrie / Le jour de gloire est – tout privé.“