© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Unhaltbare Zustände am Comer See
Italien: Roms Versagen in der Migrationspolitik setzt die Nachbarländer Frankreich, Schweiz und Österreich unter Druck
Marco F. Hermann

Angelino Alfano steht unter Druck. In einem Interview mit der Tageszeitung La Repubblica spricht Italiens Innenminister von Organisationen, die aus der Asylkrise politische Vorteile zögen und subversiv agierten. Die Behörden müßten in eine härtere Gangart schalten; wenn auch die Türkei ihre Tore öffnete, hätte dies verheerende Konsequenzen.  

Im italienischen August, in dem das politische Leben der Halbinsel ruht, sind das mehr als Lückenfüller im Sommerloch. Alfano gehört dem zentristischen Nuovo Centro Destra an, das sich 2013 von Silvio Berlusconis Parteienbündnis abspaltete, um mit der sozialdemokratisch geführten Koalition zu paktieren. Der Kleinpartei droht bei der nächsten Wahl der Untergang. Ministerpräsident Matteo Renzi reißt den Koalitionspartner ins Umfragetief. Die Opposition wirft der Regierung Führungslosigkeit in der Migrationspolitik vor.

Der Unmut der Bevölkerung wächst täglich 

Die Grenzschutzagentur Frontex berichtet von 25.000 Personen, die im Juli über das Mittelmeer auf die Halbinsel übersetzten. Annähernd 100.000 Migranten erreichten dieses Jahr bereits italienisches Festland. Demnach seien 662 Schiffe aus Libyen gestartet, weitere 38 aus Ägypten und sogar 18 aus der Türkei. Die Zahlen sind mit dem ersten Halbjahr des vergangenen Jahres vergleichbar.

Dabei stößt Italien an seine Kapazitätsgrenzen. Annähernd 150.000 Menschen leben derzeit in Notunterkünften, die meisten aus afrikanischen Ländern wie Eritrea, Somalia, Gambia oder Nigeria. Flüchtlinge aus dem Nahen Osten sind selten. Die Mehrzahl will weiterreisen. Deutschland ist das bevorzugte Ziel. Seitdem die Nachbarstaaten Italiens ihre Grenzkontrollen verschärft haben, wird dies jedoch immer schwieriger. 

Frankreich hatte bereits im Vorjahr den Grenzübergang zum ligurischen Ventimiglia gesperrt. Anfang August eskalierte dort die Lage, als Hunderte Migranten die Polizeisperren Richtung Nizza durchbrachen. Die Beamten sehen sich mit einer Sisyphusarbeit konfrontiert: kaum bringen sie die Zuwanderer zurück in die Lager, machen diese neuerliche Versuche, zur Grenze zurückzukehren. Für die Einheimischen sind die Zustände eine Katastrophe: Ventimiglia liegt an der mondänen Riviera, es ist Hochsaison. Der Unmut der Bevölkerung gegen die Migranten und die Regierung steigt dort tagtäglich.

Neben Ventimiglia hat sich der Übergang zwischen dem italienischen Como und dem schweizerischen Chiasso zum nächsten Brennpunkt entwickelt. Der Grenzbahnhof Campo San Giovanni verkommt zum wilden Flüchtlingslager. Hunderte Migranten kampieren dort und hoffen auf den Transit nach Norden. Die Schweizer Grenzwache griff allein im Juli rund 6.300 illegale Einwanderer auf, 2.700 davon stellten einen Asylantrag. Gerüchte über angebliche Grenzöffnungen sorgen immer wieder für Anstürme. Da die Eidgenossen jedoch weiterhin Chiasso abriegeln, bilden sich im Grenzgebiet Zeltstädte – wenige Kilometer von den Luxusvillen des Comer Sees entfernt. Erinnerungen an Idomeni werden wach.

Auch in Österreich, wo mit dem Brenner der dritte neuralgische Punkt des Grenzverkehrs existiert, beobachtet man die italienische Krise mit Sorge. Die Bauarbeiten an einer Barriere am Alpenpaß sind abgeschlossen. Tirol ist die logische Ausweichroute nach Deutschland, sollten Ventimiglia und Como halten. Die Regierung befürchtet eine neuerliche Asylwelle wie im Vorjahr und will vorbereitet sein.

Denn allein in der nahen Finanzmetropole Mailand hat der Migranten-Rückstau sichtbare Folgen. Kirchen, Kasernen und Sporthallen wurden zu Schlafstätten umfunktioniert. Der Hauptbahnhof wird zum Sammelpunkt der Gestrandeten. Seit Wochen kommt es hier zu Unruhen. Neben dem Rückstrom von der Grenze kommt der Zustrom aus den überfüllten Lagern des Südens hinzu.