© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Er beunruhigte das Mittelmaß
Der Letzte einer höheren geistigen Ordnung: Zum Tod des deutschen Geschichtsdenkers Ernst Nolte
Thorsten Hinz

Bei meinem letzten Besuch sprach Ernst Nolte über die Gebrechen des Alters und seine Furcht vor dem Siechtum. Gleichzeitig äußerte er den Wunsch, die nächsten fünfzig Jahre noch mitzuerleben. Die Zukunft Deutschlands und Europas beschäftigte ihn, vor allem die Frage, ob sie sich dem Islam beugen oder dieser sich ihnen anpassen würde.

Eine gewisse Hoffnung, sagte er, verbinde er mit säkular gestimmten Einwanderern, welche die Vorzüge des Landes zu schätzen wüßten. Namentlich erwähnte er den Grünen-Politiker Cem Özdemir. Ich registrierte das als Beweis für die Beweglichkeit eines unkonventionellen Geistes und wandte bloß ein, der Genannte sei leider ein gewöhnlicher Polit-Karrierist, und zwar in einer Partei, die die moralische Schwäche Deutschlands als ihre Geschäftsgrundlage kultiviere. Den Eindruck aber, den der Hochbetagte mit seiner überraschenden Äußerung und geistigen Präsenz auf mich machte, war desto tiefer. 

Er war ein Geschichtsdenker der Sorge. Noch mit über 80 Jahren hatte er sich in die Islamismus-Problematik eingearbeitet und sein Paradigma von den zwei totalitären Widerstandsbewegungen – den Bolschewismus und den Nationalsozialismus –, die sich gegen die Moderne wenden, um ein drittes Element erweitert.

In den autobiographischen Texten hebt er zwei prägende Eindrücke hervor. Die aufgeregte Spätzeit der Weimarer Republik, die ihn bereits als Kind – er wurde 1923 im rheinischen Witten geboren – für politische und historische Ereignisse sensibilisierte, sowie sein Studium bei Martin Heidegger. Ohne diese Erfahrungen wäre ihm „nur ein bestenfalls durchschnittliches Leben“ beschieden gewesen. Hinzu kam das Bewußtsein, der Überlebende einer Alterskohorte zu sein, die der Krieg  weitgehend ausgerottet hatte. Unter den Toten befand sich sein jüngerer Bruder. Das Andenken dieser Generation zu schützen, indem er ihr Schicksal in der historischen Erzählung erhellte, war ihm ein weiterer Antrieb.

Folgerichtig wandte er sich den ideologischen Bewegungen und Parteien im internationalen Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts zu. Müßig ist es, seine Bücher aufzuzählen, seine bahnbrechenden Erkenntnisse zu benennen oder den sogenannten Historikerstreit zu repetieren, der für das Land und ihn persönlich schicksalhaft wurde.

In diesem 1986/87 ausgetragenen Konflikt (siehe auch Seite 16 dieser Ausgabe) ging es nicht um wissenschaftliche Fragen, und die Mehrzahl der Kontrahenten war ihm ohnehin nicht gewachsen. Es ging im Kern darum, ob die Aufgabe des Historikers, geschichtliche Ereignisse zueinander in Beziehung zu setzen, sie also zu relativieren, auch für den Nationalsozialismus und seine Exzesse galt. Ob die Deutschen zu einem aufgeklärten Geschichts- und Selbstbild gelangten oder unter einer volkspädagogischen und quasireligiösen Mystifikation leben würden. Es war, wie der Historiker Dan Diner anläßlich von Noltes Tod resümierte, „ein Kampf um die Seele der Bundesrepublik“.

Diese Seele war krank von Anfang an. Als Universitätsprofessor in Marburg und Berlin hatte Nolte sich dem Meinungsterror der Studentenbewegung entgegengestellt. Er betrachtete sie als Folge der beschädigten Staatlichkeit Deutschlands. Weil das „Bedürfnis nach Selbstidentifizierung mit Konkretem“ bei den jungen Menschen unerfüllt blieb, wandten sie sich ideologischen Surrogaten zu. Eine intellektuelle Schicht war im Entstehen, die sich einem zynischen Nihilismus hingab und gleichzeitig nach Führungspositionen im Staat griff. In dem Zusammenhang fällt in dem 1974 veröffentlichten Buch „Deutschland und der Kalte Krieg“ bereits das Wort „Untergang“.

Nolte stellte in dem Opus weitreichende Überlegungen an. Er forderte „die Anerkennung der Bundesrepublik durch sich selbst“, was die Akzeptanz der auf lange Sicht unabänderlichen deutschen Teilung einschloß. So könne sie innerlich frei und „zur Möglichkeit der Stätte der Wahrheit“ werden im Vorgriff auf „eine künftige Einheit der Welt“.

Das war Hegelscher Idealismus pur und, wie der Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt bemerkte, der „subtilste Versuch (...), aus der Not eine Tugend zu machen“. Tatsächlich hat Nolte die Aussage in der zweiten Auflage abgemildert und 1992 sogar eine „eklatante Fehleinschätzung“ eingeräumt. Doch noch im eingestandenen Irrtum steckten viel Wahrheit und politische Einsicht. Denn während das nationale Provisorium bis 1989/80 andauerte, wirkten die ideologischen Verblendungen immer zerstörerischer fort, um nach der Wiedervereinigung mit „Auschwitz als Gründungsmythos“ in die „Vernichtung des deutschen Geschichtsbewußtseins“ einzumünden, wie er 1998 in seinem Buch „Historische Existenz“ konstatierte. Es war für sein Denken bezeichnend, daß er diese Zerstörung einem allgemeineren Verlust an Transzendenz, „rückgewendeter, begegnenlassender Ausgriff zum Ganzen“, zuordnete, wie er gut heideggerisch formulierte. Früh sah er den Westen in der Gefahr, einem auf den Augenblick fixierten Hedonismus zu verfallen und in „einer letzten Menschengeneration langlebiger, aber notwendigerweise aussterbender Wesen“ zu verdämmern, die anderen, kraftvolleren Zivilisationen Platz macht. 

Geschrieben wurde der visionäre Satz schon vor mehr als vierzig Jahren. Ernst Nolte war wie kein anderer prädestiniert, die Stichworte für fällige Grundsatzdebatten zu liefern, doch nach dem Historikerstreit war er aus der Öffentlichkeit so gut wie verbannt. Seine bittere Bilanz lautete: „(...) ich wurde zu keiner Konferenz, zu keiner Diskussion, zu irgend etwas seit diesem Augenblick in Deutschland mehr eingeladen – völlig an den Rand gestellt, sozusagen eine Unperson geworden. Das ist eine sehr schlimme Niederlage.“

Doch es war noch mehr, ein intellektuelles Verbrechen nämlich und eine Selbstverstümmelung der Gesellschaft obendrein, und die Versuche, den Skandal mit einigen späten, zugespitzten Zitaten Noltes noch nachträglich zu rechtfertigen, bezeugen die anhaltende Beunruhigung, in die das Mittelmaß durch seine Thesen geriet. Die Zitate sind als Paradoxien im Kontext eines Gesamtwerks zu verstehen, das einer höheren geistigen Ordnung angehört.

Die JUNGE FREIHEIT hat Ernst Nolte gewürdigt und ihm im Rahmen der Möglichkeiten Publizität verschafft. In seiner Rede zur Verleihung des Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreises 2011 hat er das dankbar anerkannt. Im Januar 2015 veröffentlichte der Verfasser dieses Artikels zum 92. Geburtstag Noltes im Internet einen persönlichen Dank und stellte sein Werk in eine Reihe mit Schriften von Hannah Arendt, Arnold Gehlen, Karl Jaspers, Georg Lukács und Carl Schmitt.  

Im Dankschreiben gab der Jubilar zu bedenken, daß seine Leistung womöglich überschätzt worden wäre. Im Gespräch meinte er jedoch, der Text hätte ruhig auch im Druck erscheinen können. Fürwahr, das hätte er. Deshalb soll ein – leicht abgeänderter – Auszug daraus diesen Nachruf auf den großen deutschen Geschichtsdenker beschließen, der am 18. August 93jährig in Berlin verstorben ist:

„Die meisten Werke von Historikern und Gesellschaftsanalytikern aus der Bundesrepublik verdienen es, lediglich als Symptome wahrgenommen zu werden, als Symptome eines im Geiste kranken Landes. Bei Ernst Nolte dagegen erfährt man etwas über die Beschaffenheit und Ursachen der Krankheit. Er hatte die Fähigkeit, die Dinge, die noch im Fluß sind, als etwas bereits historisch Gewordenes zu betrachten. Der 1980 publizierte Aufsatz ‘Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?’, in dem er die Historisierung des Nationalsozialismus anmahnte, beginnt mit den Worten: ‘Wenn im Jahr 1980 Bewohner eines fernen Sterns zur Erde kämen …’ Er hatte hier die eigene Fernperspektive formuliert. Die Fähigkeit, sich von den Leidenschaften des politischen Tagesgeschäfts nicht nur zu absentieren, sondern sie zum Gegenstand ruhiger Betrachtung zu machen, ist die höchste und würdigste Form des öffentlichen Engagements, zu der ein Denker finden kann.

Bewundernswert war seine Selbstdisziplin. Er war tückischen und verletzenden Angriffen ausgesetzt. Nie hat er seinen Gegnern den Gefallen getan, auf ihr Niveau herabzusteigen. In seinen Erwiderungen hat er das gegen ihn verspritzte Gift in seine Bestandteile zerlegt und so die Giftmischerei als solche entlarvt.

In einem späten Text Adalbert Stifters steht der Satz: ‘Es entstand nun ein Erstaunen über den Mann, und es erhob sich eine Lobpreisung desselben.’ Der öffentliche Lobpreis blieb Ernst Nolte versagt, was nicht gegen ihn, sondern gegen die Umstände spricht, unter denen er zuletzt wirkte. Seine Bücher stehen, mit zahlreichen Anstreichungen, Anmerkungen und seiner Signatur versehen, vom Schreibtisch aus in Griffweite. Danke, Ernst Nolte!“