© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

„Ist das plausibel?“
Der Berliner Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans forscht seit Jahren zum Thema Integration. Trotz Fortschritten auf diesem Feld bescheinigt er Politik und Medien Verantwortungslosigkeit und Realitätsblindheit
Moritz Schwarz

Herr Professor Koopmans, Sie haben so manche Kritik an Ihrer Studie über Fundamentalismus unter Muslimen und Christen „politisch motiviert“ genannt. 

Ruud Koopmans: Ich meine damit den Unwillen wahrzunehmen, daß es Fremdenfeindlichkeit und Extremismus nicht nur in der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft gibt, sondern ebenso in erheblichem Maße unter den Muslimen in Deutschland.

Laut Ihrer Studie halten zwei Drittel der europäischen Muslime religiöse Gesetze für wichtiger als die des Landes, in dem sie leben. Drei Viertel vertreten die Ansicht, es gebe nur eine mögliche Auslegung des Koran. Sechzig Prozent lehnen Homosexuelle als Freunde ab, 45 Prozent zeigen sich überzeugt, man könne Juden nicht trauen und der Westen wolle den Islam zerstören. 

Koopmans: Ja – aber Vorsicht! Sie dürfen es sich nicht zu einfach machen: Unsere Studie definierte „religiösen Fundamentalismus“ erst bei der Kombination dreier Einstellungen als gegeben: Befürwortung einer Rückkehr zu den Wurzeln des Glaubens. Befürwortung, daß nur eine Interpretation der heiligen Schrift möglich ist. Befürwortung, daß diese wichtiger sei, als die weltlichen Gesetze. Nur wer alles drei bejahte, nur den definierten wir als „religiösen Fundamentalisten“. Ergebnis: Siebzig Prozent der Muslime in Deutschland haben keine fundamentalistische Einstellung. Andererseits: Der Anteil mit einer solchen ist mit etwa dreißig Prozent viel größer, als das in den öffentlichen Debatten reflektiert wird – wo in diesem Zusammenhang meist nur von einer kleinen Minderheit islamistischer Fundamentalisten am Rande der Gesellschaft die Rede ist. 

Wo sehen Sie das in der Debatte? 

Koopmans: Keineswegs nur auf linker Seite, vielmehr reicht es sozusagen bis in die Mitte der Gesellschaft. Erinnern Sie sich etwa an den Anschlag von Orlando, da ließ sich das mal wieder gut beobachten. Präsident Obama wagte nicht, das Wort Islam in den Mund zu nehmen; Frau Clinton erwähnte immerhin den Dschihadismus. Oft finden die komischsten Verrenkungen statt, nur um nicht aussprechen zu müssen, daß solche Taten mit bestimmten Formen des Islam zu tun haben. 

Zum Beispiel?

Koopmans: Zum Beispiel, daß in Orlando nicht religiöse Motive entscheidend gewesen wären, sondern Homophobie – als ob das eine mit dem anderen nicht stark zusammenhängt.

Kann, muß aber nicht. 

Koopmans: Sicher, aber daß ein Zusammenhang besteht, zeigt ja unsere Studie – und nicht nur unsere.

Der Täter von Orlando, ebenso wie die der jüngsten Attentate in Deutschland, hatten psychische Probleme. 

Koopmans: Ja, das ist die dominante Deutung: Ein psychisch Kranker, der sich selbst radikalisiert hat – mit dem Islam aber habe das nichts zu tun. Und das, obwohl sich diese Täter öffentlich mit dem IS solidarisiert hatten. Ich frage, warum wird eigentlich nie ernst genommen, was diese Leute selbst sagen?

Weil sie mitunter Trittbrettfahrer sind. 

Koopmans: Der Orlando-Täter etwa besuchte drei-, viermal die Woche eine Moschee und war zweimal auf Wallfahrt in Saudi-Arabien. Und dennoch heißt es, er war nicht religiös. Ist das plausibel?   

Ihre Studie (siehe JF 17/16) ist im Ausland mit Interesse aufgenommen worden, nur nicht in Deutschland. Warum nicht?

Koopmans: Ja, und das, obwohl die Publizität der Studie auf eine Pressemitteilung zurückgeht, die hier in Deutschland – und natürlich auf deutsch – herausgekommen ist. Der Hauptgrund für dieses Desinteresse ist wohl, daß hierzulande die Sensibilität für islamischen Fundamentalismus geringer ist. 

Warum?

Koopmans: Vermutlich, weil es in Deutschland noch keinen wirklich großen Anschlag gegeben hat. Was wiederum wohl vor allem mit der Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung bei uns zu tun hat, die nämlich vor allem aus der Türkei stammt. Eine zweite große Gruppe sind Muslime aus dem ehemaligen Jugoslawien. Letztere neigen stark zu einem liberalen Islam, und erstere orientieren sich an der Türkei. Und die war bislang ein säkularer Staat – was sich jetzt allerdings ändern könnte. 

Ist zu erwarten, daß sich der türkische Islam in Deutschland ändert, wenn sich der Trend in der Türkei jetzt intensiviert?

Koopmans: Davon sollten wir ausgehen. Doch das ist nur das eine Problem. Ein anderes ist, daß sich durch den Flüchtlingszustrom der Anteil des arabischen Islams in Deutschland erheblich erhöht hat. Studiert man die Täterprofile des internationalen islamischen Terrorismus, stellt man fest, daß Täter mit arabischer Herkunft dominieren. Das läßt vermuten, daß Deutschland droht, künftig stärker mit islamischem Fundamentalismus und Terrorismus konfrontiert zu werden. Zumal es nicht zutrifft, daß jene, die aus Syrien zu uns kommen alle vor dem IS geflüchtet sind und keine Sympathie für fundamentalistische Bewegungen haben können. Nach dem, was wir wissen, ist die Mehrheit eher vor Assad geflohen. Es widerspricht sich also nicht unbedingt, Flüchtling und fundamentalistisch gesonnen zu sein.

Können wir die Flüchtlinge mittels Willkommenskultur nicht einfach integrieren?

Koopmans: So einfach ist das nicht. Richtig ist immerhin, daß wir Zuwanderung benötigen, denn unsere Bevölkerung schrumpft und überaltert.

Wir brauchen moslemische Zuwanderung?

Koopmans: Wir brauchen Zuwanderung, die uns nützt. Zuwanderung per se nützt nichts, sondern nur solche, die am Arbeitsmarkt integriert werden kann.  Das ist um so eher der Fall, je höher das Bildungsniveau und je geringer die kulturelle Distanz der Zuwanderer ist. Das aber trifft auf Menschen aus dem islamischen Raum eher weniger zu. Unter diesem Gesichtspunkt würden wir wohl eher nicht auf Einwanderer aus islamischen Regionen zurückgreifen. Nicht weil sie Muslime sind, sondern weil sie im Schnitt in geringerem Maße die Voraussetzungen erfüllen. Aber bei Flüchtlingsmigration steht humanitäre Pflicht im Vordergrund, man kann niemanden ins Kriegsgebiet zurückschicken. Also müssen wir das Beste daraus machen.    

„Refugees welcome“ plus Integrationsförderung: So lautet die Formel, die Politik und viele Medien verbreiten. Ist das realistisch?

Koopmans: Immerhin ist das neue Integrationsgesetz ein großer Fortschritt. Das alte lief darauf hinaus, nach drei Jahren die Lage im Herkunftsland zu prüfen. Meist herrschte dort weiter Krieg oder Unsicherheit, und so bekamen die Flüchtlinge einfach dauerhaftes Bleiberecht – egal ob sie inzwischen Deutsch gelernt, sich um Arbeit bemüht hatten oder straffällig geworden waren. Gut, daß das neue Gesetz den Aufenthalt nun an Bedingungen knüpft. Das klappt aber nur, wenn es auch vollständig umgesetzt wird. Dazu gehört, daß wer die Bedingungen nicht erfüllt, wieder geht, so es die Lage im Heimatland zuläßt. Die Erfahrung zeigt, daß die Umsetzung solcher Rückkehrpolitik nicht einfach ist. 

Setzt die Politik das Gesetz voll um, gibt es also kein Anwachsen von Parallelgesellschaften, Gewalt und Fundamentalismus oder sonstigen sozialen oder kulturellen Konflikten mit islamischen Zuwanderern?

Koopmans: Nicht ganz, denn dauert die Krise im Irak und Syrien an, werden wir auf längere Zeit neben gutintegrierten Einwanderern auch eine Gruppe von „Problemfällen“ im Land haben, unter denen einige anfällig für Gewalt und Fundamentalismus sein werden. So gesehen war es wenig verantwortungsvoll, 2015 so viele Flüchtlinge in einer so kurzen Zeit fast unkontrolliert ins Land zu lassen. Natürlich, die Kanzlerin mußte handeln, als sich eine humanitäre Katastrophe anbahnte. Doch wäre ihr die humanitäre Lage wirklich wichtig gewesen, hätte sie sich dafür eingesetzt, mehr Flüchtlinge aus Syrien und Irak kontrolliert aufzunehmen, statt zu warten bis sich die Lage zuspitzt. Das wäre übrigens nicht nur besser für uns, sondern auch humanitärer gewesen. So hätte man die wirklich Hilfsbedürftigen herausfiltern können. Denn jene, die seit letzten Sommer gekommen sind, waren keineswegs die Ärmsten und Schwächsten. Im Gegenteil, es waren eher die Jungen und Gesunden sowie die Besserbegüterten, die sich die Flucht leisten konnten. 

Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, daß Probleme allein Folge von Fehlern sind, man Integration nur „richtig“ machen muß. Wie aber paßt dazu, daß etwa der Täter von Orlando geborener Amerikaner war oder die Täter des 11. September 2001 sozial gut angepaßte Akademiker?  

Koopmans: Das stimmt, Integrationsprobleme haben eben auch etwas mit Kultur und Religion zu tun. Weshalb die Lösung des Islamismus-Problems auch nur aus der muslimischen Gemeinschaft selbst kommen kann. Letztlich können nur die gemäßigten Muslime dem Radikalismus den Boden entziehen. Vorausgesetzt, sie erkennen endlich, daß dieses Problem ihr Problem ist. Diese Einsicht aber ist blockiert – dadurch, daß die meisten Vertreter der Muslime der Vorstellung verhaftet sind, das Problem liege nicht im Islam, sondern vor allem bei den Aufnahmegesellschaften, die es an Aufnahmebereitschaft mangeln ließen. Oder gar, daß europäischer Kolonialismus oder amerikanischer oder israelischer Imperialismus schuld seien.

Nach Ihrer Ansicht sind das Ausreden?

Koopmans: Ausreden, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß es sich um ein Problem handelt, das in der Mitte der islamischen Gesellschaft wurzelt. Niemand hat ein Problem, festzustellen, daß rechtsradikale Gewalt nicht nur mit dem Rande der Gesellschaft zu tun hat, sondern tiefer reicht. Ebenso ist das beim islamischen Terrorismus. Damit will ich nicht sagen, daß die Mitte der islamischen Gesellschaft bei uns fundamentalistisch oder gar terroristisch sei. Vielmehr, daß wir das Problem weder verstehen noch bewältigen können, wenn wir immer nur über die kleine Gruppe der Täter sprechen und nicht über die tiefer wurzelnde Struktur. 

Warum ist das Argument der „mangelnden Aufnahmebereitschaft“ nicht plausibel?

Koopmans: Natürlich gibt es auch dieses Problem, das ist gar nicht zu leugnen. Aber selbst wenn wir weder AfD noch Pegida hätten, wäre es nicht so, daß es keine Probleme mit der Integration gäbe. Mal abgesehen davon, daß auch Nicht-AfD-Wähler – ja sogar Verfechter der Willkommenskultur – im Zweifel mit einer gewissen Segregation reagieren; etwa ihre Kinder aus Schulen mit zu hohem Ausländeranteil nehmen oder aus Nachbarschaften wegziehen, wenn dort nach ihrer Auffassung zu viele Ausländer hinziehen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Selbstsegregation, etwa wenn Einwanderer ihre Kinder nicht mit deutschen Kindern spielen lassen, weil diese nicht ihre kulturellen Werte teilen.

Warum ist Integration nicht einfach nur ein soziales Problem? 

Koopmans: Diese Frage habe ich in einer meiner Studien auch gestellt: Lassen sich Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit unter muslimischen Zuwanderern mit deren sozioökonomischem Status erklären? Ergebnis: Er spielt eine Rolle – aber nur eine kleine.

Warum spielt dieses Argument dann bei Politikern und Medien eine so große Rolle?

Koopmans: Vermutlich aus zwei Gründen: Erstens weil viele von ihnen nicht wahrhaben wollen, daß die oftmals viel wichtigeren Gründe – Kultur und Religion – eine vergleichsweise große Rolle spielen. Zweitens, weil Politiker Erklärungen bevorzugen, die Bereiche betreffen, die sie auch beeinflussen können. So können sie das Gefühl vermitteln, daß sie etwas zu bewirken vermögen. 

Was folgt daraus, daß Kultur und Religion eine „große Rolle“ spielen – wir uns dieser Erkenntnis aber nicht stellen?

Koopmans: Das bringt uns in eine heikle Situation, denn Maßnahmen auf diesem Feld manövrieren uns rasch auf Kollisionskurs mit unserem Verständnis vom Rechtsstaat. Schließlich können und wollen wir nicht pauschal gegen eine ganze Religion vorgehen, wie das etwa Herr Trump in den USA vorschlägt. Ebensowenig wie wir etwa pauschal AfD oder Pegida verbieten können oder wollen – nicht etwa aus Sympathie, sondern weil so etwas nicht zu unserem liberalen Selbstverständnis paßt. Wichtig ist dennoch, daß wir anerkennen, daß kulturelle Assimilation nicht per se immer etwas Schlechtes ist. Erstens weil ein gewisses Niveau an Anpassung an die Kultur eines Landes eine Voraussetzung für gelungene Integration auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem ist und deshalb auch im Eigeninteresse der Zuwanderer liegt. Zweitens weil innerhalb der Grenzen, die durch Verfassung und Menschenrechte gesetzt sind, Nationalstaaten durchaus legitime Möglichkeiten haben, um Grenzen gegenüber der Akzeptanz von kultureller Differenz zu ziehen. Frankreich oder Berlin sind nicht weniger demokratisch oder rechtstaatlich als Großbritannien oder Hamburg, nur weil sie Lehrern in öffentlichen Schulen nicht erlauben, religiöse Symbole wie das Kopftuch in der Klasse zu tragen. Das gleiche gilt für die bisher auf beiden Seiten auf niedrigem intellektuellen Niveau geführte Debatte, ob „der“ Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Beide Antworten sind unsinnig und polarisieren nur gegenseitig. Die Debatte, die wir brauchen, ist die, welche Art Islam zu Deutschland gehört und welche nicht. Eine Debatte sowohl über Akzeptanz als auch über die Grenzen der Akzeptanz.  






Prof. Dr. Ruud Koopmans, ist Direktor der Forschungsabteilung „Migration, Integration, Transnationalisierung“ des 1969 auf Initiative des Bundestages gegründeten Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Zudem lehrt er Soziologie und Migrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. Zuvor hatte er den Lehrstuhl an der Universität Amsterdam inne. Seine Studien zur Integration machen ihn zum gefragten Interviewpartner der Medien, wie FAZ, NZZ oder bei „Anne Will“. Geboren wurde Koopmans 1961 in den Niederlanden.

 

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