© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Thomas Weber. In seinem neuen Buch bündelt der Historiker bemerkenswerte Belege.
Kam Hitler von links?
Stefan Scheil

In den letzten Wochen seines Lebens bedauerte Adolf Hitler, innenpolitisch den Schlag gegen Rechts nie konsequent geführt zu haben. Aus seiner Sicht war das einer der wesentlichen Gründe für die Niederlage 1945. Gern wird diese Äußerung in der Debatte ins Feld geführt, wenn es darum geht, ob denn der Nationalsozialismus überhaupt ein „rechtes“ Phänomen gewesen sei, oder ob nicht doch der Sozialismus im Vordergrund stand.

Der Historiker Thomas Weber vertritt eine Art Mischposition: An der Lokalisierung des Nationalsozialismus im rechten Spektrum zweifelt er nicht, doch sei sein Führer tatsächlich ursprünglich der Linken zugetan gewesen und erst später „Nazi“ geworden.

Im westfälischen Breckerfeld 1974 geboren, avancierte Weber nach einer Promotion in Oxford zum Professor für Geschichte an der Universität Aberdeen, wo er lehrt. Hatte seine Dissertation noch die Eliten in Deutschland und Großbritannien vor 1914 zum Thema, so näherte er sich parallel als Mitarbeiter an Ian Kershaws voluminöser Hitler-Biographie der NS-Thematik. Er ist außerdem an einer Initiative beteiligt, die in Europa und dem Mittelmeerraum sogenannte „Wahrheitskommissionen“ ins Leben rufen will, die friedensstiftende Vergangenheitsbilder entwerfen sollen. Der unter Fachhistorikern eher belächelte Wahrheitsbegriff kommt hier in politisierter Weise zu neuen Ehren.

Webers aktuelles Buch „Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von ‘Mein Kampf’“ enthält eine ungewöhnlich lange Dankesliste, die des Autors Historiker-Netzwerk illustrieren soll. Dessen Hauptthese lautet: Der kommende Diktator war im Ersten Weltkrieg nicht nur ein Etappenhengst, wie Weber 2010 in „Hitlers erster Krieg“ behauptete, sondern zeitweise ein Linksrevolutionär. Es geht um die politische Orientierungsphase Hitlers in der Zeit zwischen der Novemberrevolution Ende 1918 und dem Versailler Vertrag im Juli 1919. Weber ist der Ansicht, hier den Nachweis einer politischen Linksorientierung Hitlers führen zu können. Er weist dazu auf dessen Aktivitäten in seinem revolutionären Regiment hin und auf die angebliche Nähe Hitlers zur Münchener Räterepublik. Nach Angaben des Sozialdemokraten und Leiters der Münchener Post, Erhard Auer, galt Hitler in deren Redaktion als „Mehrheitssozialist“, also als SPD-Anhänger. Erst die Unterzeichnung des Versailler Vertrags sei Hitlers „Damaskus­erlebnis“ gewesen. Das geht insofern am Thema vorbei, als Weber sich nicht dazu durchringen kann, den jederzeit vorhandenen sozialistischen Grundzug in Hitlers Weltbild anzuerkennen. Für den Sozialdemokraten Auer fand Deutschlands Diktator denn auch noch in Kriegszeiten lobende Worte, anders als für die politische Rechte. Ob all dies einmal von einer Weberschen „Wahrheitskommission“ festgestellt wird, bleibt abzuwarten.