© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Getreten, doch ohne Vorsatz getötet?
„Fall Niklas“: Ein medizinisches Gutachten wirft Fragen auf
Heiko Urbanzyk

Im Fall Niklas, der in Bad Godesberg am 7. Mai „zu Tode getreten“ wurde, sorgt das gerichtsmedizinische Gutachten für Aufsehen. Niklas habe demnach bereits vor der Tat eine Hirnschädigung gehabt. Das Gutachten folgert, daß ein Tritt vor den Kopf nicht die Todesursache gewesen sei. Ein zuvor ausgeführter Schlag vor den Kopf habe eine Ader im Gehirn zum Reißen gebracht und den Tod verursacht. Allerdings, schon ein leichter Schlag hätte die Todesfolge herbeiführen können. 

Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin ihre Ermittlungen gegen den Hauptverdächtigen Walid S. und die zwingend nötige Begründung des Haftbefehls von Totschlag auf Körperverletzung mit Todesfolge um. „Wir sind ursprünglich davon ausgegangen, daß der Täter mit massivster Gewalt vorgegangen sein muß, um die Blutung hervorzurufen. Das können wir so nicht mehr sagen. Ohne Vorschädigung wäre wohl kein Mensch an dieser Gewaltanwendung gestorben“, hieß es von der Staatsanwaltschaft. Ein Tötungsvorsatz mag eine Untersuchungshaft begründen; ein bloßer Körperverletzungsvorsatz nicht unbedingt. Das Landgericht Bonn geht allerdings von Wiederholungsgefahr aus, so daß Walid S. nach wie vor einsitzt.    

Wie läßt sich ein          Vorsatz nachweisen?

Wie ist das nun mit dem Tatvorsatz und der Strafbarkeit? Walid S. muß im Zeitpunkt der Ausführung der todesursächlichen Handlung nicht unbedingt „gewollt“ oder „gewußt“ haben, daß sein nachweislich tödlicher Schlag Niklas töten wird. Es genügt für den Tötungsvorsatz das „billigende in Kauf nehmen“. Findet sich der Täter damit ab, daß die Erreichung seines Zieles den Tod des Opfers zur Folge haben könnte, liegt der Vorsatz sogar dann vor, wenn der Tod des Opfers vom Täter eigentlich nicht erwünscht ist. Aber das gilt einzig und allein im Zeitpunkt der todesursächlichen Handlung. Todesursächlich war bei Niklas laut gerichtsmedizinischem Gutachten der erste Faustschlag, und gerade nicht der noch so brutale Kopftritt. 

Wie weisen Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte den Vorsatz nach? Einfach ist es, wenn ein Täter gesteht: „Ich wollte ihn töten“ oder „Mir war klar, daß dieser Faustschlag ihn töten könnte“. Ein Tötungsvorsatz liegt dann vor. Problematisch ist es, wenn der Täter wie Walid S. schweigt. Die Gelehrten streiten über diese Problematik des Nachweises des Tötungsvorsatzes, die Rechtsprechung ebenfalls. Die Ergebnisse sind für Nichtjuristen nicht immer nachvollziehbar. Es entscheiden die Umstände des Einzelfalles. Die Kenntnis des Täters von der Gefährlichkeit einer Handlung kann auf die billigende Inkaufnahme des „Tötungserfolges“ schließen lassen, muß es aber nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH stellen jedoch besonders gefährliche (Gewalt-)Handlungen regelmäßig ein Indiz von erheblichem Gewicht dar, weil das Inkaufnehmen des Tötungserfolges bei diesen naheliegt. Der Hammerschlag auf den Kopf, das tief in Brust oder Rücken gestochene Messer, das Hinabstoßen aus großer Höhe etwa genügen den Gerichten grundsätzlich, dem schweigenden Angeklagten in der Beweiswürdigung den Tötungsvorsatz nachzuweisen. Das Kopftreten gehört ebenfalls dazu. 

Dennoch verneint die höchstrichterliche Rechtsprechung, daß es einen Erfahrungssatz geben solle, die Vornahme lebensbedrohlicher Handlungen lasse regelmäßig den Rückschluß auf Tötungsvorsatz zu. Angesichts der hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten bedarf die Frage der Billigung des Todeserfolges einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, in die die psychische Verfassung des Täters bei der Tatbegehung sowie seine Motivation ebenso einzubeziehen sind wie die konkrete Angriffsweise.    

Walid S. soll Niklas vor den Kopf getreten haben. Die Staatsanwaltschaft nahm zudem ausdrücklich „massive Faustschläge“ an, weil sie sich ohne massive Gewalt einen Tötungserfolg nicht erklären konnte. Der Tötungsvorsatz schien zum Greifen nah. Daher wäre im Fall Niklas der Nachweis des Tötungsvorsatzes, der für die Bestrafung als  Totschlag oder gar Mord benötigt würde, mit einem tödlichen Kopftritt oder massiven Faustschlägen vergleichsweise einfach möglich. Der Kopftritt durch Walid S. jedoch war  nicht die Todesursache, der Vorsatz beim Kopftritt mangels Kausalität somit salopp gesagt egal. Da allein der Fausthieb kausal für den Tod ist, kommt es nur auf den Vorsatz bei der Ausführung dieses Schlages an.  Faustschläge vor den Kopf sind aber nicht regelmäßig tödlich. Es dürfte fernliegen, jedem, der anderen mit der Faust ins Gesicht schlägt, juristisch Tötungsvorsatz „anzudichten“. Jede Kneipenschlägerei wäre dann (absurderweise) juristisch zunächst als (versuchter) Totschlag zu untersuchen.  

Es wird im Fall Niklas weiteren Untersuchungen und der Beweisaufnahme obliegen, zu klären, ob die Gesamtumstände den Rückschluß auf ein billigendes Inkaufnehmen des „Todeserfolges“ bei Ausführung des Faustschlages erlauben oder nicht. Ein Laie mag vielleicht nicht verstehen, daß der Kopftritt, der dem äußeren Geschehen nach einen einfacheren Rückschluß auf Tötungsvorsatz erlaubt, bei der Bewertung, ob Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge vorliegt, außen vor bleibt. 

Bei der Strafzumessung wird die brutale Art und Weise der Tatausführung (Faustschläge und Tritte) allerdings wieder ein Thema sein. Apropos Strafe: Der Totschläger wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Wer durch eine Körperverletzung den Tod der verletzten Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Beide Straftatbestände sind nach oben offen, lassen also bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe zu.