© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Folgen eines Vulkanausbruchs
Schwarze Romantik: 1816, im Jahr ohne Sommer, entstanden zwei literarische Meisterwerke
Wolfgang Kaufmann

Im April 1815 herrschte in Europa fieberhafte Unruhe: Napoleon Bonaparte war nach seiner Flucht von der Insel Elba in Paris eingerückt und saß wieder auf dem Kaiserthron, während die Gegner des Korsen hektisch ihre alte Allianz erneuerten und ein weiteres Mal zum Kampf rüsteten. Zur gleichen Zeit explodierte am anderen Ende der Welt, in Indonesien, der Vulkan Tambora, wobei so viel Energie freigesetzt wurde wie bei der Zündung von 170.000 Atombomben des Hiroshima-Typs. Und das bekam der durch die Befreiungskriege ausgelaugte Kontinent auch zu spüren – jedoch erst 1816, dann aber mit voller Wucht.

Die bei der stärksten Eruption seit 25.000 Jahren ausgeworfenen Staubmassen bewirkten nämlich eine drastische Abkühlung des Klimas. In deren Folge kam es im „Jahr ohne Sommer“ zu Mißernten, Hungersnöten und Epidemien, darunter ganz besonders in der Schweiz. Trotzdem freilich reisten wieder diverse junge, wohlhabende Engländer an den Genfer See, um dort weit weg von zu Hause ihre unkonventionellen Neigungen auszuleben.

Einer dieser Aussteiger war der Dichter George Gordon Byron, besser bekannt als Lord Byron, der zusammen mit seinem Intimus und Leibarzt John Polidori in der prachtvollen Villa Diodati bei Cologny abstieg. Außerdem bezogen die achtzehnjährige Mary Godwin, ihr noch verheirateter Geliebter Percy Bysshe Shelley sowie die schwangere Byron-Gespielin Claire Clairmont gleich nebenan, im Maison Chapuis, Quartier.

Allerdings waren wegen des „Weltuntergangswetters“ mit heftigen Gewittern, Stürmen, ungewöhnlicher Kälte und anhaltendem Regen kaum Ausflüge oder andere „Lustbarkeiten“ im Freien möglich – zumal draußen auch das Elend regierte, weil sich die einfache Bevölkerung die knappen und deshalb maßlos überteuerten Nahrungsmittel nicht mehr leisten konnte. Deshalb kam man regelmäßig in Byrons Villa zusammen und las dort mit Hingabe die neuesten Gruselgedichte von Samuel Taylor Coleridge.

Der englische Dichter gehörte zu den Vertretern der seit kurzem Furore machenden Schwarzen Romantik, die das Erotische mit dem Morbiden verband. Außerdem philosophierten die jungen Leute über Galvanismus und die Experimente des Naturforschers Erasmus Darwin, dem nachgesagt wurde, er könne aus toter Materie Leben erzeugen. Dazu konsumierten alle fünf reichlich Laudanum, eine süchtig machende Opiumtinktur. Die erfreute sich damals in Dichterkreisen einiger Beliebtheit, obwohl sie die Kreativität auf Dauer eher hemmte als anregte.

In dieser Atmosphäre voller geistiger Höhenflüge, drogeninduzierter Halluzinationen und düsterer Endzeitstimmungen aufgrund der apokalyptischen Verhältnisse rundum entstand die Idee zu einem Wettbewerb: Wem würde es wohl gelingen, die beste Schauergeschichte zu verfassen? Und tatsächlich legten Mary Godwin und John Polidori hieraufhin zwei Texte vor, welche beide auf ihre Weise Literaturgeschichte schreiben sollten, während eine weitere Erzählung aus der Feder von Percy Shelley und Lord Byron auf ewig fragmentarisch blieb.

Zunächst veröffentlichte Shelleys nunmehrige Ehefrau – Mary Godwin hatte den exaltierten Dichter kurz nach der gemeinsamen Reise geehelicht – im Januar 1818 ihren Roman „Frankenstein or The Modern Prometheus“. Er erzählt von dem Schweizer Viktor Frankenstein, der an der Universität Ingolstadt einen künstlichen Menschen zusammenbastelte, welcher sich am Ende gegen seinen Schöpfer wandte. 

Damit skizzierte Mary Shelley genau den Typ von Wissenschaftler, wie ihn das 19. und 20. Jahrhundert bald in überreichlicher Zahl hervorbrachte: Einerseits machte er für unrealisierbar Gehaltenes möglich, andererseits fehlte ihm das Gespür für die Konsequenzen hieraus. Deshalb konnte die Figur des Frankenstein künftig kaum mehr in Vergessenheit geraten. Vielmehr sind er und sein Monster (im englischen Original „Creature“) auch heute noch in aller Munde, wenn zum Beispiel über ethische Fragen im Zusammenhang mit der Fortentwicklung von bestimmten Biotechnologien diskutiert wird.

Ganz anders fiel hingegen die Kurzgeschichte von John Polidori aus, die den Titel „The Vampyre“ trug und im April 1819 erschien, wobei der Verlag zunächst suggerierte, der Text stamme von Lord Byron. Aber er wäre sicher auch ohne diesen Marketing-Trick ein Erfolg geworden, weil er den Nerv des Publikums auf ganz ähnliche Weise traf wie Shelleys Frankenstein. Vampire, also nach Menschenblut lechzende Wesen, geisterten nämlich schon seit längerem durch den Volksglauben – und im Laufe des 18. Jahrhunderts brach schließlich sogar eine regelrechte Vampir-Hysterie aus, nachdem in Serbien zwei angebliche „Untote“ aufgetaucht waren. Daher stürzten sich bald viele Schriftsteller auf das Thema, das Polidori im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig gemacht hatte, indem er mit der Person seines Lord Ruthven die Figur des aristokratischen, auf Frauenjagd befindlichen „Edel-Vampirs“ einführte. Infolgedessen entstanden dann so bekannte weitere einschlägige Werke wie Edgar Allan Poes „Berenice“ (1835), Alexej Tolstois „Der Vampir“ (1841) sowie Bram Stokers „Dracula“ von 1897.

Der Rummel um die lichtscheuen blutdürstigen Wiedergänger ebbte auch nicht ab, als sich der Rationalismus immer weiter Bahn brach. Vielmehr erlebte das Genre des Vampir-Romans ständig neue Höhenflüge, so zum Beispiel durch Stephen Kings Dracula-Adaption „Brennen muß Salem“ oder die derzeit so extrem beliebte „Twilight“-Saga der US-Jugendbuchautorin Stephenie Meyer, welche besonders weibliche Teenager anspricht. Die sind nachgerade fasziniert von den überirdischen Kräften des schönen Blutsaugers Edward. Dazu kommt der Umstand, daß Vampire nicht altern – der Mädchentraum schlechthin.   

Aufgrund ihrer zutiefst populären Sujets wären Geschichten wie „Frankenstein“ und „The Vampyr“ sicher irgendwann in ähnlicher Weise von anderen Autoren als Shelley und Polidori geschrieben worden. Aber so sorgte eben der Vulkanausbruch in Indonesien dafür, daß die Welt der Literatur im Verlaufe eines einzigen mißratenen Sommers vor 200 Jahren gleich um zwei epochale Werke bereichert wurde.