© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Die Legende von Frankreichs goldenen Jahren zwischen 1945 und 1975
Auftritt einer neuen Problembevölkerung
(ob)

Viele ältere Franzosen trösten sich angesichts der chronischen Krise ihres Landes mit dem nostalgischen Blick zurück auf das Narrativ der „Trente Glorieuses“, jener goldenen Epoche zwischen 1945 und 1975, als eine aufstiegsorientierte Konsumgesellschaft die dunklen Seiten des Kapitalismus wohlfahrtsstaatlich eingehegt hatte und sich über eine scheinbar unerschöpfliche Prosperität freute. Für die Leipziger Kulturwissenschaftlerin Christiane Reinecke sind diese „glorreichen Jahre“, die infolge der Ölkrise 1973 fast abrupt endeten, nichts weiter als die „Meistererzählung“ jener Technokraten, die eine formierte Gesellschaft jenseits häßlicher Klassengegensätze anstrebten. Tatsächlich habe sich Frankreich Ende der Sechziger auf eine solche durch „moderne Konsumpraktiken“ harmonisierte Gesellschaft zwar zubewegt (Geschichte und Gesellschaft, 42/2016). Doch nach der „Vermittelschichtung“ der Arbeiterklasse sei eine andere „Problembevölkerung als gefährliche Klasse“ entstanden: die im Prozeß der Dekolonisation in den Vorstädten angesiedelten, überwiegend muslimischen Nordafrikaner. Seitdem hätten daher soziale Spannungen und Unruhen nicht mehr darüber hinwegtäuschen können, daß sich in den glorreichen „Boomjahren“ das Versprechen auf Komfort und Aufstieg „kaum für alle erfüllte“, so daß erfahrungsgeschichtlich die siebziger Jahre keinen Umbruch markieren. 


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