© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Gerechtigkeit statt Wahrheit
Wie eine enthemmte Gedächtnispolitik die Geschichtswissenschaft bedroht
Dirk Glaser

Im Juni 2005 löste Olivier Pétré-Grenouilleau mit einem Interview im Journal du dimanche eine schnell ins Kesseltreiben gegen ihn mündende geschichtspolitische Kontroverse aus, demgegenüber die Angriffe auf Ernst Nolte im Zuge des „Historikerstreits“ sich wie eine „zahme Posse“ ausnahmen. Ungeachtet derart extrem unterschiedlicher Praktiken, mit unbequemen Gelehrten zu verfahren, will der Rostocker Althistoriker Egon Flaig in seiner umfangreichen Studie über „Gedächtnispolitik und historische Wissenschaft“ zwischen den Kampagnen gegen den Deutschen und den Franzosen jedoch vornehmlich Verbindendes erkennen (Historische Zeitschrift, 302/2016).

Im Historikerstreit von 1986 verlief die Front zwischen einem gedächtnispolitisch argumentierenden Jürgen Habermas und seinem Anhang einerseits, dem isoliert fechtenden, die Autonomie der historischen Wissenschaft gegen eben jene erinnerungspolitischen Zumutungen verteidigenden Nolte andererseits. Dort das Pochen auf den „öffentlichen Gebrauch“ der Historie, die im westdeutschen Intellektuellenmilieu primär auf volkspädagogisch nutzbaren Konstruktionen der NS-Vergangenheit basierte, hier die solche den Erkenntnisprozeß einschnürenden Zwangsjacken souverän abstreifende „kühle Erforschung von objektiven Sachverhalten“ durch den Berliner Geschichtsdenker. 

Eine für Flaig paradigmatische Konstellation, die sich 2005 in Frankreich wiederholte. Nur ging die Skandalisierung nicht von einer innovativen Deutung der Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus im „Weltbürgerkrieg“ aus, sondern von Pétré-Grenouilleaus Thesen zum Sklavenhandel im besonderen, zum französischen und europäischen Kolonialismus im allgemeinen. Der Historiker attackierte mit drei kardinalen Aussagen die heilige Kuh der französischen Gedächtniskultur, in der die Rollen der weißen Täter und der schwarzen Opfer in Zement gegossen schienen. 

Geschichtspolitisch dient die „Shoah als Modell“

Erstens durch die Exponierung der unwiderleglichen Tatsache, daß Schwarzafrikaner im Sklavenhandel nicht ausschließlich Opfer, sondern ebenso Täter waren. Zweitens wehrte er sich gegen die „Loi Taubira“ von 2001, ein Gesetz, das den transatlantischen Sklavenhandel vom 15. bis 19. Jahrhundert als Menschheitsverbrechen qualifiziert und als Genozid dem Holocaust gleichstellt. Für Pétré-Grenouilleau eine ahistorische Klassifizierung, da der Genozid an den europäischen Juden und der Handel mit schwarzen Sklaven verschiedene Prozesse gewesen seien. Denn das Verbrecherische des Völkermordes stand nie in Zweifel, während jahrtausendelang die Sklaverei als legitime Handelspraxis galt. 

Schließlich stellte Pétré-Grenouilleau noch die Berechtigung afrofranzösischer Aktivisten in Frage, sich als Abkömmlinge von Sklaven zu einem Opferkollektiv de luxe formieren und Ansprüche auf „Wiedergutmachung“ an den französischen Staat geltend machen zu dürfen. 

Diese Aussagen provozierten eine Republik, die sich seit 1990 die meisten Memorialgesetze verordnet hatte, um die multikulturelle Fragmentierung der französischen Gesellschaft aufzufangen. Damit hoffte Frankreichs politische Klasse, die Einwanderer aus den einstigen Kolonien durch das memorialgesetzlich flankierte Zugeständnis eigener „Vergangenheiten“ über ethnische und kulturelle Gräben hinweg „integrieren“ zu können. Wohlwissend, daß, wie Flaig anmerkt, nur eine gemeinsame Vergangenheit die gemeinsame Zukunft verbürgt, soll nicht der Grundkonsens der Nation erodieren.

Es waren diese Illusionen der Pariser Führungselite, deren selbstzerstörerisches Potential Pétré-Grenouilleaus Kritik an den gedächtnispolitischen Verkürzungen der Sklavereigeschichte entlarvte. Kein Wunder, daß der Entrüstungssturm sich bis zur Forderung steigerte, den Professor von der Universität zu entfernen. Die Urheberin des Gesetzes von 2001, Hollandes spätere Justizministerin Christiane Taubira, stand dabei an der Spitze einer auf Amtsenthebung drängenden Agitation. Dieser Dunkelmänner-Bewegung von Wissenschaftsfeinden trat jedoch eine imponierende Solidaritätsaktion von 600 Historikern entgegen, die Anfang 2006 den Verzicht auf eine Strafverfolgung Pétré-Grenouilleaus wegen angeblicher „Leugnung“ des Menschheitsverbrechens der Sklaverei erzwang. Die Nationalversammlung habe daraufhin 2008 „die Reißleine“ gezogen und erklärt, memoriale Fragen nur noch in Resolutionen und nicht mehr gesetzlich behandeln zu wollen.

Für Flaig bleibt der französische Memorialstreit von 2005/06 trotz dieses parlamentarischen Rückziehers eine wichtige Wegmarke, da die Gedächtnispolitik ungebremst expandiert und die Geschichtswissenschaft bedroht – nicht nur in Frankreich. Unter der Parole „Herstellung historischer Gerechtigkeit“ breiten sich seit dreißig Jahren wissenschaftsfremde Bestrebungen aus. Deren an der „Shoah als Modell“ orientiertes Zwischenziel lautet „Wiedergutmachung“. Eine Forderung, die nichts mit Forschung, alles mit praktischer Politik und Politikberatung zu tun habe. 

„Einkapselung in dauerhaft rassischer Opferrolle“

Diese „Reparationspolitiken“ und ihre Diskursstrategien, die mit Vergangenheit als „politisch verwertbarem Kapital“ wuchern, zeichnen sich durch Heterogenität aus. Was zwangsläufig zur „Opferkonkurrenz“, etwa zwischen Juden und Afroamerikanern, Afrikanern und Arabern führe. Die „Obsession der Besonderheit“ des eigenen Leidens tendiere dazu, anderen ein vergleichbares Ausmaß an Leid zu bestreiten. Was verheerende Rückwirkungen auf den Umgang mit der historischen Wahrheit zeitige. Dabei trieben sich Multikulturalismus und Identitätspolitik wechselseitig voran. 

Da Geschichte nunmehr der Gruppenkohäsion dient und die Identität des Opferkollektivs festigen soll, relativiert sich, was einst als verbindliche historische Wahrheit galt. Die Karriere eines Modeworts signalisiert, was Flaig fürchtet: Immer häufiger ist in historiographischen Texten von „aushandeln“ die Rede. Entsprechend erfährt der Wahrheitsbegriff eine Umprägung: „Wahrheit wird nicht mehr forschend gesucht und erkannt, sie wird ausgehandelt.“ Das liege in der Konsequenz der multikulturalistischen Absage an den gemeinsamen „moralischen Horizont“. 

Zugleich öffne sich die „bunte“ Kreation parallelgesellschaftlicher Identitäten in bizarrer Weise rassenideologischen Narrativen. Denn allein „Rasse“, nicht die instabile „Klasse“, sowenig wie Kultur, Recht, Familie, Geschlecht, eigne sich dafür, Identität über den Wandel der Generationen hinweg plausibel zu konstruieren. Die eingeklagten materiellen „Wiedergutmachungen“ müßten dann die „Einkapselung in eine dauerhaft rassische Opferrolle“ immer weiter festigen. 

Selbstredend werde unter diesen Auspizien auch das pseudo-religiöse Versprechen gebrochen, durch „Wiedergutmachung“ Vergangenheit zu „bewältigen“ oder gar zu „erlösen“ und so die Menschheit ins Reich paradiesischer Harmonie zu versetzen. Ideen, die offenkundig dem Wahn der Machbarkeit huldigen. Denn die Identität politischer Gemeinschaften lasse sich nur über vier Generationen, etwa achtzig Jahre lang, bewahren. Also seien nur drei Generationen für etwaige historische Verbrechen verantwortlich, schon die jüngste, vierte, trage keine Verantwortung mehr für vergangenes Unrecht, sei mithin außerstande zur „Versöhnung“. Der Glaube, „Allversöhnung“ herstellen zu können, wenn man nur rundum „Wiedergutmachung“ leiste, belade unsere Generationen darum mit der aberwitzigen Zumutung einer göttlichen, für Menschen unlösbaren Aufgabe.

Wenn die Hybris einer auf „historische Gerechtigkeit“ fixierten, historische Wahrheitsansprüche negierenden Gedächtnispolitik allerdings ihren Druck mit massiver politischer Schützenhilfe weiter aufrechterhalten dürfe, „dann wird die Historie als Wissenschaft die nächsten fünfzig Jahre nicht überleben“, ist sich Flaig sicher.