© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Herr Seibert stellt etwas klar
Armenien-Resolution: Wie die Bundesregierung sich distanzierte, indem sie eine Distanzierung dementierte
Christian Vollradt

Hat sie nun oder hat sie nicht? Ende vergangener Woche war es die alles bestimmende Frage in Bundes-Berlin: Ist Kanzlerin Angela Merkel vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eingeknickt, hat sie sich von der Armenien-Resolution des Bundestags distanziert? 

Am frühen Freitagmorgen hatte Spiegel Online gemeldet, die Bundesregierung beabsichtige, auf Distanz zu der im Juni beschlossenen Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern 1915 zu gehen. Regierungssprecher Steffen Seibert werde vor der Presse eine entsprechende Erklärung abgeben. Dies sei als eine politische Geste an die türkische Regierung zu verstehen, damit deutsche Abgeordnete die in Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten wieder besuchen dürfen. Ankara hatte dies aufgrund der Verärgerung über die Resolution bisher verwehrt, außerdem seinen Botschafter aus Berlin abgezogen. Vor allem in der SPD hatte man darauf gedrängt, daß die Parlamentarier die Soldaten in der Türkei besuchen dürfen; andernfalls werde man einer Verlängerung des Mandats der dort stationierten Luftwaffeneinheiten, die sich am Kampf einer internationalen Koalition gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) beteiligen, nicht zustimmen. 

Resolution ist rechtlich nicht bindend

Da weder Merkel noch ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine solche Distanzierung hätten vornehmen können, ohne daß das Ganze wie ein Kniefall vor Erdogan ausgesehen hätte, sollte Seibert vorgeschickt werden, so die Meldung bei Spiegel Online. Daß sowohl Merkel als auch Steinmeier ursprünglich gegen die Resolution waren, ist kein Geheimnis. Schließlich blieben beide auch ostentativ der Sitzung des Bundestags fern, in der der Beschluß zum Völkermord an den Armeniern gefaßt wurde. Doch die Nachricht von der bevorstehenden Distanzierung sorgte für Nervosität und teilweise Empörung (nicht nur) unter den Unionsabgeordneten. Das Wort vom Kotau machte die Runde. 

Als gegen Mittag Merkels Sprecher Steffen Seibert dann in der Bundespressekonferenz erschien, sah er sich einer weitaus größeren Anzahl von Journalisten gegenüber als bei den üblichen Regierungspressekonferenzen am Freitag. Die Erwartungshaltung auf seiten der Medienvertreter war groß. „Na, sind Sie schon nervös“, fragte grinsend ein Korrespondent, noch bevor es losging. Seibert lächelte, gab sich betont gelassen und verlas eine Erklärung: „Die intensive Berichterstattung von heute morgen veranlaßt mich, mich gleich an Sie zu wenden. Da wird fälschlich behauptet, die Bundesregierung wolle sich von der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages distanzieren. Davon kann überhaupt keine Rede sein.“ 

Weiter äußerte der Sprecher: „Der Deutsche Bundestag hat das Recht und die Möglichkeit, sich zu jedem Thema zu äußern, wann immer er das für richtig hält. Die Bundesregierung unterstützt und verteidigt dieses souveräne Recht der deutschen Volksvertretung. Es steht der Bundesregierung nicht zu, sich in die Zuständigkeiten eines anderen Verfassungsorgans einzumischen und sich dazu wertend zu äußern.“ Das war vom Wortlaut her ein klares Dementi. 

Doch Seibert fügte noch eine weitere Aussage an: Der Entschließungsantrag des Bundestages ziele „qua Definition“ darauf, „Auffassungen zu politischen Fragen zum Ausdruck zu bringen, ohne daß diese rechtsverbindlich sind“. So stehe es auch auf der Internetseite des Parlaments, und das habe bereits zuvor der Sprecher des Auswärtigen Amtes betont. Damit machte Seibert zweierlei: Er referierte etwas, das – nach eigenen Worten – längst bekannt und daher auch unspektakulär ist, nämlich die fehlende rechtliche Bindung. Zweitens aber sprach er damit genau das aus, worin – laut der morgendlichen Spiegel-Meldung – die angebliche Distanzierung bestehen sollte; nämlich, daß die Bundesregierung die Armenien-Resolution als nicht rechtsverbindlich ansieht. 

Wenn dies allerdings so wenig neu und so selbstvertsändlich ist, warum mußte der Regierungssprecher diesen Umstand noch einmal erwähnen – drei Monate nach dem Beschluß des Bundestages? Die Klarstellung in der Öffentlichkeit, auf die es Ankara angeblich ankam, war jedenfalls erfolgt, wenn auch mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß sich die Bundesregierung nicht distanziere. 

Hatte die vermeintlich enthüllende Meldung bei Spiegel Online damit in Wirklichkeit Seibert den idealen Vorwand geliefert, sich über das Dementi einer Distanzierung distanzieren zu können? Oder mußte sich umgekehrt dadurch der Regierungssprecher wohl oder übel zu der Resolution bekennen, um nur deren fehlende Rechtsverbindlichkeit erwähnen zu können, die geplante Distanzierung also einschränken? Die Frage, ob er sich auch ohne den Spiegel-Bericht zu der Sache geäußert hätte, ließ Seibert wohlweislich unbeantwortet.?

Entscheidend wird sein, wie die türkische Seite sich verhält. Erste Signale deuten darauf, daß Ankara zufrieden ist. Im Auswärtigen Amt rechnet man mit der baldigen Rückkehr des türkischen Botschafters nach Berlin, und für Anfang Oktober ist eine Reise von Abgeordneten nach Incirlik geplant.