© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

„Höchst bedrohlich“
Asyl, Rente, Steuern: Angesichts von Stimmenverlusten streitet sich die Koalition
Paul Rosen

Die Bundesrepublik wird von Kesselflickern regiert – schon vor und erst recht nach der Landtagswahl von Mecklenburg-Vorpommern stritten und streiten sich die Koalitionsparteien CDU, SPD und CSU wie die fahrenden Handwerker früherer Tage. Bis zur Bundestagswahl im Herbst 2017 wird das nicht besser werden. Im Gegenteil: Jeder kocht sein eigenes Süppchen, das er dem Wähler möglichst schmackhaft servieren will. 

Obwohl immer mehr Wähler das Menü von Chefköchin Angela Merkel („Wir schaffen das“) verschmähen, deuten sich innerhalb der CDU noch keine Veränderungen an, auch wenn der nordrhein-westfälische CDU-Chef und Merkel-Freund Armin Laschet von einer „ernsten Lage“ seiner Partei angesichts der starken Stimmenverluste in Mecklenburg-Vorpommern und dem Abrutschen auf den dritten Platz nach SPD und Alternative für Deutschland (AfD) spricht. Zu den wenigen kritischen Stimmen aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gehörte Erika Steinbach, die die Verluste auf schwindendes Vertrauen in Merkel zurückführte. Es sei schwer einzuschätzen, ob es der CDU gelingen könne, diesen Vertrauensverlust wieder wettzumachen“. 

Unter der Oberfläche gärt es um so heftiger. Merkel sah sich gezwungen, vom G20-Gipfel in China aus Stellung zum Wahlausgang zu nehmen und die Verantwortung zu übernehmen: Zwar hätten die Stimmenverluste etwas mit der Flüchtlingspolitik zu tun, dennoch halte sie „die Entscheidungen, so wie sie getroffen wurden, für richtig“. Das erinnert an Helmut Kohls „Weiter so“ und an Gerhard Schröders „Basta“. 

Der kleine, aber wichtige Unterschied besteht darin, daß Kohl und Schröder sich nicht um eine Abkehr ihrer jeweiligen Koalitionspartner FDP beziehungsweise Grüne sorgen mußten. Das ist heute anders. SPD-Chef Sigmar Gabriel glaubt jetzt, doch wieder eine Chance auf die Kanzlerschaft 2017 in einem Bündnis mit Grünen und FDP oder sogar in einer Konstellation mit den Linken zu haben. Nicht aus eigener Stärke – die reden sich Gabriel und die Genossen nur ein. Vielmehr setzt der SPD-Chef auf die Schwäche der CDU. Merkel hat Vertrauen eingebüßt – auf der Beliebtheitsskala rutscht die „waidwunde Kanzlerin“ (FAZ) langsam aber sicher in den Keller. In den meisten Medien wurde sie bis vor kurzem noch gefeiert. Jetzt schrieb die Deutsche Presse-Agentur schon vom „Merkel-Malus“, der die CDU belaste. 

Inzwischen feuert          Seehofer aus allen Rohren

Vizekanzler Gabriel provoziert und ärgert, wo er nur kann. Kürzlich ließ er wissen, daß er das geplante europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP schon vor Abschluß für gescheitert hält, was ihm wütende Reaktionen der Union einbrachte. Obwohl die SPD vor einem Jahr im Welcome-Chor kräftig mitgesungen hat, will sich der SPD-Chef ähnlich wie CSU-Chef Horst Seehofer für Obergrenzen ausgesprochen haben – etwa in dem Sinne, daß immer klar gewesen sei, daß nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge ins Land kommen könnten. 

Noch am Wahlabend drehte er weiter auf und warf Merkel und der CDU vor, zuviel Zeit vergeudet zu haben: „Wir haben ganz viel Zeit vertan durch unnötige Diskussionen“, sagte er mit Blick auf das von der SPD schon lange geforderte Integrationskonzept. Er forderte Geld für Sprachkurse, Integrations- und Arbeitsmarktmaßnahmen. In einem großen Solidarpakt müsse auch anderen Menschen in Deutschland als Flüchtlingen geholfen werden. Die anderen sind niemand anders als die Bürger der Bundesrepublik – früher einmal Klientel der Volksparteien, was sie in Gabriels Augen wieder werden sollen. 

Im Kabinett legt die SPD Feuer, wo es nur geht. Familienministerin Manuela Schwesig will ein Familiengeld für junge Eltern, die weniger arbeiten, einführen. Die Union ist dagegen. Sozialministerin Andrea Nahles will die Ost-Renten angleichen, was bei Finanzminister Wolfgang Schäuble zu Wutausbrüchen führte. Der Nahles-Plan einer Lohngleichheit von Mann und Frau erbost Marktwirtschaftler in der Union genauso wie der SPD-Vorstoß, die Arbeitgeber mit höheren Sozialbeiträgen und die Autofahrer mit höheren Benzinsteuern zu belasten. Unter der Regie der SPD-Zentrale werden wiederum sämtliche Vorschläge, die der Union Pluspunkte einbringen könnten, sabotiert: vom Burka-Verbot über das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft bis zu einer breiten Netto-Steuerentlastung.

Gabriel ist nicht der einzige Zocker am Berliner Spieltisch. Von Bayern aus hat CSU-Chef Horst Seehofer die Hauptstadt ins Visier genommen. Den CSU-Strategen ist klar, daß sie nicht glaubwürdig Seehofer Obergrenzen für Flüchtlinge fordern lassen können, während jede Stimme für die CSU bei der Bundestagswahl in Wirklichkeit eine Stimme für Merkel werden wird. 

Seit der Landtagswahl feuert Seehofer, der der Kanzlerin schon eine „Herrschaft des Unrechts“ attestierte, aus allen Rohren: „Die Lage der Union ist höchst bedrohlich“, die Menschen wollten „diese Berliner Politik nicht“, so Seehofer. Was er nicht sagt, aber in seinen Worten mitschwingt: Nur er traut sich eine Berliner Politik zu, die die Menschen wollen, und als alter Sozialpolitiker hält er sich für besonders SPD-kompatibel. 

Daß Merkel mit der Bekanntgabe ihrer Kanzlerkandidatur zaudert, hat Gründe. Die Kanzlerin hat den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren. Die Gewinnerin von 2017 ist sie noch lange nicht.