© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

„Nur ausgeben, was wir auch einnehmen“
Brasilien: Eindeutig votiert der Senat für die endgültige Amtsenthebung der Sozialistin Dilma Rousseff / Nachfolger Michel Temer steht vor schwere Aufgaben
Lukas Noll

Kaum etwas beherrscht der Olympia-Gastgeber Brasilien neben Samba und Karneval so medaillensicher wie die Bürokratie: Egal ob Einreise oder Strafanzeige – wer zwischen Amazonas und Iguaçu-Wasserfällen die Staatsmacht aufsucht, sollte sich in Geduld für ein längeres Prozedere üben. Davon kann nun auch Dilma Rousseff ein Lied singen. Selbst eine Präsidentin wird nicht einfach „weggeputscht“, wie „Dilma“ den Verlauf ihrer Absetzung darstellte. 

Das mit 61 zu 20 Stimmen überraschend eindeutige Senatsvotum am vergangenen Mittwoch war der letzte Schritt eines sich über Monate hinziehenden Impeachment-Verfahrens gegen die Präsidentin. Eröffnet worden war die Absetzung bereits im April vom Abgeordnetenhaus: nach Einberufung einer Sonderkommission beschloß der Senat Mitte Mai eine vorübergehende Amtsenthebung. Vizepräsident Michel Temer hatte die Amtsgeschäfte seitdem interimsmäßig ausgeführt. Mit der endgültigen Amtsenthebung Rousseffs darf der konservative Politiker die verbleibenden 28 Monate ihrer Amtszeit über Süd-amerikas größte Volkswirtschaft regieren.

Bereits wenige Stunden nach der Abstimmung im Senat wurde Temer vereidigt. Der 75jährige scheint keine Zeit dabei verlieren zu wollen, sein schweres Erbe anzutreten. Brasilien steckt in seiner bislang schlimmsten Rezession. Die Wirtschaft schrumpfte in den vergangenen beiden Jahren um jeweils fast vier Prozent, die Inflationsrate liegt bei knapp zehn Prozent, und jeder neunte Brasilianer ist arbeitslos – betroffen sind über zwölf Millionen Menschen.

Die katastrophale Wirtschaftslage ist der Bumerang einer über 13 Jahre lang allzu großzügigen Ausgabenpolitik der sozialistischen Regierungen von Dilma und ihrem Amtsvorgänger Lula da Silva. Doch während der im Volk beliebte Lula seine Wahlgeschenke durch hohe Erdöleinnahmen abfedern konnte und Millionen Brasilianer aus der Armut holte, sah sich Dilma sinkenden Rohstoffpreisen und einem milliardenschweren Korruptionsskandal ausgesetzt. 

So formaljuristisch sich das Impeachment-Verfahren gegen Brasiliens Präsidentin auch im Stile typisch brasilianischer Bürokratie begründete, die Hintergründe für die Absetzung der Präsidentin sind höchst politischer Natur. Dilma war eine direkte Verwicklung in den Skandal rund um das staatliche Erdölunternehmen Petrobras nämlich gar nicht vorgeworfen worden. Ganz im Gegensatz zu ihrer Partei und auch dem Koalitionspartner unter Michel Temer, gegen den als Vizepräsident eigens ein – nun hinfälliges – Impeachment angestrengt wurde. 

Über die vergangenen Monate hinweg stützte sich das Verfahren gegen die Präsidentin daher ganz auf die nachweisliche Fälschung der Haushaltszahlen unter ihrer Regentschaft. Ein Vorwurf, der zwar auch in Brasilien nicht als Bagatelldelikt gilt, den Anwendungsbereich für eine Absetzung des höchsten Staatsamts aber deutlich nach unten ausdehnt. So dürfte der Hauptgrund für Rousseffs Entmachtung weniger die Fälschung der Budgetzahlen sein, als vielmehr auf die dramatische ökonomische Situation hinter diesen Zahlen selbst abzielen.

Daß Michel Temer nun eine Abkehr von Rousseffs expansiver Fiskalpolitik ankündigt, läßt viele Beobachter über den fragwürdigen Hergang der Amtsenthebung hinwegsehen. 

Die Bovespa, Brasiliens Börse in São Paulo, hat mit der Amtsübernahme Temers deutlich zugelegt, auch die brasilianische Währung Real konnte sich stabilisieren. „Unser Motto ist es, nur auszugeben, was wir auch einnehmen“, kündigte Temer in seiner ersten Fernsehansprache als Präsident an – und macht ausländischen Investoren damit Hoffnung auf ein von vielen bereits abgeschriebenes Schwellenland. 

Doch viel Zeit bleibt Temer nicht, um seine Vorhaben in die Tat umzusetzen: Bereits 2018 stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen an, bei denen sich der 75jährige und seine Partei dem Willen des Wählers stellen müssen. Der dürfte in Zeiten wiedereinsetzender Verarmung nicht unbedingt deckungsgleich mit den Wunschvorstellungen ausländischer Investoren sein: Projekte wie die Kürzung von Sozialprogrammen und die noch in der vergangenen Woche angekündigte Rente ab 65 sind im wohlfahrtsstaatlich geprägten Brasilien kaum populär. Auch Temer eilen mit Beliebtheitswerten unter 20 Prozent derzeit keine Vorschußlorbeeren voraus, zumal er selbst unter Korruptionsverdacht steht. Mehr als die Hälfte der Brasilianer würde bereits jetzt gern an die Urnen treten.