© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Krieg ohne Gewinner
15 Jahre 9/11 und die Folgen: Statt Stabilität eine Welt aus den Fugen
Marc Zoellner

Selten klang Bin Laden derart zuversichtlich wie in seiner letzten Videobotschaft. Noch zu Beginn des Krieges gegen den Terror, so erklärte der saudische Dschihadistenführer selbstbewußt in einer Anfang Juli im Internet veröffentlichten Rede, seien die „Mudschaheddin in Afghanistan belagert“ gewesen. Doch heute, nach anderthalb Jahrzehnten des Kampfes, stünden selbige siegreich „in Afghanistan, und sie haben Syrien erreicht, Palästina, den Jemen, Ägypten, den Irak, Somalia, den indischen Subkontinent, Libyen, Algerien, Tunesien, Mali und Zentralafrika. Unsere Anhänger“, führt Bin Laden im Video weiter aus, „zählen sich nach hunderttausenden, und unsere Unterstützer nach Millionen. Und das alles verdanken wir der Gnade Allahs des Allmächtigen.“

Von einem Sieg sind die USA weiter entfernt denn je

Die Rede ist nicht von Osama bin Laden, dem Terrorfürsten von al-Qaida und Mastermind hinter den Anschlägen des 11. September 2001. Dieser starb bereits im Mai 2011, als Spezialkräfte der US-amerikanischen Navy Seals sein Haus im pakistanischen Abbottabad stürmten. Der neue Bin Laden ist 25 Jahre jung, heißt Hamza, ist milchgesichtig, redegewandt – und seit vielen Jahren der erklärte Liebling unter Osamas rund zwei Dutzend Nachkommen. 

Fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters avanciert Hamza ebenso unerwartet wie rasant zum Kronprinzen der al-Qaida-Gruppe – und tritt damit ein schweres Erbe an. Denn tatsächlich ist die Lage der Terrorgruppe von Hamzas Vater derzeit, anders als in seiner Botschaft gepriesen, alles andere als rosig.

Erst im April traf Hamza die letzte Schreckensmeldung: Damals war Al-Mukallah gefallen. Seit dem Frühling 2015 konnte al-Qaida beinahe ein ganzes Jahr lang die Kontrolle über die ostjemenitische Hafenstadt, die gleichzeitig als Kapitole der Provinz Hadramaut fungiert, für sich behaupten. Al-Mukallah ist ein Ort von besonderer strategischer Bedeutung für al-Qaida: Denn wer im Osten des Jemen die Küste beherrscht, besitzt ebenso das unwegsame, von Wüsten und Wadis geprägte Hinterland bis hinauf zur Weltkulturerbestadt Schibam.

Umgerechnet rund fünf Millionen US-Dollar an Steuereinnahmen erbrachte der Terrorgruppe die Herrschaft über Al-Mukallah – und dies täglich. Der Hadramaut fungierte somit als lukrative Goldgrube zur Finanzierung der Tausenden im Sold al-Qaidas stehenden Mudschaheddin – auch über die Provinzgrenzen hinaus. Überdies für die Terrorgruppe ideologisch von höchster Bedeutung, stammte Mohammed bin Awad aus der Gegend um al-Mukallah; der Vater von Osama und somit Hamzas Großvater. Der Hadramaut ist Stammland der Bin-Laden-Dynastie.

 Daß al-Mukallah im April 2016 nach mehrmonatigen Kämpfen in die Hände regierungstreuer jemenitischer Truppen gefallen ist, daß diese dabei von US-Drohnen, von saudi-arabischen Kampffliegern und von Bodentruppen der Vereinigten Arabischen Emirate Unterstützung erfuhren, stellte für die al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), wie sich der jemenitische Flügel der Terrorgruppe offiziell nennt, einen gravierend kriegsentscheidenden, für Hamza bin Laden aber auch einen durchaus persönlichen Schlag dar.

Die vergangenen fünfzehn Jahre des Kriegs gegen den Terror haben tiefe Spuren hinterlassen; und das nicht nur bei al-Qaida. Allein in den Feldzügen der Vereinigten Staaten seit 2001 in Afghanistan (im Rahmen der Operation Enduring Freedom), seit 2003 im Irak (mittels der Koalition der Willigen) sowie seit 2004 in Pakistan (im sogenannten Drohnenkrieg) starben Schätzungen der Friedensorganisation International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) zufolge über eine Million Menschen. 

Daß der Großteil der Opfer aus unbeteiligten Zivilisten bestand, stellte für al-Qaida geradezu einen makaberen Glücksfall dar. Denn mit jedem neuen Bombenangriff und jeder neuen militärischen Intervention, so rühmt sich die Terrorgruppe, trieben die Vereinigten Staaten über die Jahre hinweg neue Kämpfer in die Reihen der Organisation bin Ladens.

So wie im September 2012, als Zehntausende aufgebrachte Protestler vor den US-amerikanischen Botschaften in Tunis, Kairo und Khartoum demonstrierten und dabei laut riefen: „Obama, Obama, wir alle sind Osama!“ Zeitgleich hatten libysche Extremisten das US-Konsulat in Bengasi angegriffen und dabei den Diplomaten J. Christopher Stevens sowie drei Botschaftsangehörige ermordet. 

Nach offizieller Washingtoner Lesart bezogen sich beide Fälle lediglich auf den islamkritischen Film „Innocence of Muslims – Die Unschuld der Muslime“. Doch al-Qaida widersprach der US-Darstellung bereits vorab: Sowohl das Attentat als auch die internationalen antiamerikanischen Proteste, verkündete AQAP in mehreren Publikationen, seien eine direkte Reaktion auf die Tötung von Abu Yahya al-Libi gewesen, der rechten Hand Aiman az-Zawahiris, der nach der Liquidation Osama bin Ladens wiederum zum neuen Anführer von al-Qaida aufstieg. Eine komplette Ausgabe ihres auf englisch erscheinenden Hochglanzmagazins Inspire widmete al-Qaida damals den weltweiten Aufmärschen ihrer Anhänger. Auch diese stand unter dem Motto „Wir sind alle Osama!“, ebenso wie die zuletzt veröffentlichte Videorede von Bin Ladens Sohn Hamza.

Den Krieg gegen den Terror einen Erfolg zu nennen, davon sind die Vereinigten Staaten im Jahr 2016 weiter denn je entfernt. Tatsächlich konnten gerade einmal – was als eigentliches Kriegsziel des US-Präsidenten George W. Bush in Afghanistan galt – die Drahtzieher hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 dingfest gemacht oder aber, so wie im Fall Osama bin Ladens, liquidiert werden. Jene Männer, die das verheerende Selbstmordkommando von 19 überwiegend aus Saudi-Arabien stammenden Flugzeugentführern planten und finanzierten, bei welchem allein in New York rund 2.800 Menschen in den Trümmern der Zwillingstürme des World Trade Centers umkamen.

Istanbul, Madrid, London – al-Qaida setzt Zeichen

Das Terrornetzwerk selbst jedoch überstand nicht nur die ersten Kampfhandlungen im afghanischen Hindukusch. Es konnte sich infolge der gewonnenen Reputation durch den gelungenen Vierfachanschlag, aber auch aufgrund der politischen Umwälzungen der arabischen Welt seit 2011 nahezu ungehindert ausbreiten. Grund dafür war vor allem das veränderte Operationsmodell der Organisation: Hatte Osama bin Laden seine Al-Qaida-Gruppe noch statisch als Rekrutierungsplattform für Dschihadisten geführt, so wie er es seit 1984, seit dem Beginn seines Wirkens im Afghanistankrieg gegen die Sowjetunion, gewohnt war, baute dessen Nachfolger Aiman az-Zawahiri die Terrormiliz in Folge systematisch nach Vorbild westlicher Franchisemodelle um: Der Name al-Qaida war fortan käuflich erwerbbar; islamistische Warlords von Mali bis Malaysia und von Rußland bis Somalia standen plötzlich Schlange, um mit Geld, Drogen und neuen Rekruten um die Gunst az-Zawahiris zu werben.

Diese konzeptionelle Wende brachte auch die Erfolgsserie der US-amerikanischen Interventionspolitik zum Erliegen. Nicht länger mehr konnten sich die Strategen des Pentagon auf ein einzelnes Schlachtfeld konzentrieren. Kriegswichtige Ressourcen mußten gesplittet, die Überwachung von Kriegsschauplätzen aus der Luft und am Boden ausgeweitet werden. 

Mit ihrem Attentat vom 11. September 2001, dessen Ablauf schon im Januar 1995 während der Al-Qaida-Operation Bojinka auf den Philippinen erprobt worden ist – Chalid Scheich Mohammed, einer der führenden Köpfe des Terrornetzwerkes, plante dort die Massenermordung von Teilnehmern des Weltjugendtags sowie des Papstes Johannes Paul II. –, hatte al-Qaida bereits bewiesen, selbst im Herzen der freien Welt ungehindert zuschlagen zu können. Die verheerenden Anschläge von Istanbul (2003), von Madrid (2004) und London (2005) dienten al-Qaida anschließend als Beweisführung, daß der Krieg gegen den Terror von den beteiligten Mächten nicht gewinnbar sei. Als direkte Folge zog Spanien nach den fast 200 Tote fordernden Zuganschlägen seine Truppen aus dem Irak zurück – für al-Qaida nicht nur ein propagandistischer, sondern ebenso ein Sieg in Fragen des personellen Aufwands.

Nur wenige Jahre später, im Dezember 2011, folgte der Rückzug der US-Truppen aus dem Irak: völlig überhastet aus einem Krieg, der von vielen Beobachtern als völkerrechtswidrig kritisiert wurde, und ein staatspolitisches Vakuum hinterlassend, welches sich die Milizen der alten Seilschaften Saddam Husseins, aber auch der Islamische Staat zunutze zu machen verstanden. Letztere Terrorgruppe diente von 2004 bis 2014 unter direkter Anleitung az-Zawahiris als Niederlassung al-Qaidas im Irak – anfänglich gar direkt als solche benannt – nämlich AQI. Daß der IS nach dessen Bruch mit al-Qaida sowie dem Abzug der US-Truppen aus dem Zweistromland weite Teile des Iraks sowie Syriens unter seine Kontrolle bringen, später gar auf die irakische Hauptstadt Bagdad zumarschieren konnte, stellte sich als Folge der wohl markantesten Fehlentscheidung des Pentagon heraus, deren Wiederholung Washington in Afghanistan nachträglich zu verhindern versuchte.

Waren 2008, zum Amtsantritt Barack Obamas, noch knapp 25.000 US-Soldaten in Afghanistan stationiert, sollte sich ihre Zahl bis 2012 mehr als vervierfachen. Der für Ende 2014 geplante Truppenabzug vom Hindukusch mußte von Washington, ebenso wie die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo, auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Für den US-Präsidenten galt es, gerade ob seiner Wiederwahl, den Vormarsch der mit al-Qaida verbündeten Talibanmilizen um jeden Preis aufzuhalten. Vergeblich: Im vergangenen September fiel mit Kundus auch das ehemalige deutsche Bundeswehrlager kurzzeitig in die Hände der Extremisten. In diesem Sommer, rund 15 Jahre nach Kriegsbeginn, kontrollieren die Taliban erneut einen Großteil des Landes. Von den 34 afghanischen Provinzen gelten 31 als heftig umkämpft oder als komplett unter Kontrolle der radikalen Paschtunen.

Al-Qaida-Kämpfer sammeln im Jemen Erfahrung

Daß der Krieg gegen den Terror kein leichtes Unterfangen darstellen würde, hatte schon George W. Bush befürchtet. „In diesem Konflikt“, mahnte der damalige US-Präsident in seiner Kriegserklärung an die Taliban vom September 2001, „gibt es keinen neutralen Boden. Heute konzentrieren wir uns auf Afghanistan. Doch das Schlachtfeld ist weit ausgedehnter.“ Fünfzehn Jahre später hat Barack Obama mit den Folgen der  Politik seines Vorgängers zu ringen.

Mit dem Versuch des Rückzugs erhobenen Hauptes aus einem Krieg, der für die Vereinigten Staaten nicht gewinnbar zu sein scheint. Gegen eine Terrorgruppe, die sich mittlerweile in dritter Generation aufbaut – nach Osama bin Laden und Aiman az-Zawahiri nun durch Osamas Kronprinzen Hamza. Und dieser greift, zum Schrecken Washingtons, auf die altbewährten Taktiken seines Vaters zurück. „Die Jugend und alle, die zu kämpfen sich in der Lage fühlen“, rief der Terroristensproß die saudi-arabischen Anhänger al-Qaidas in seiner neuesten Videobotschaft auf, solle den „Mudschaheddin im Jemen beitreten“. Denn der Bürgerkrieg im Süden der Arabischen Halbinsel, so Hamza bin Laden, eigne sich besonders als Trainingsgebiet der Dschihadisten für die eigentliche, ursprünglich von seinem Vater angedachte Mission der Terrorgruppe al-Qaida: den Sturz des verhaßten Königshauses al-Saud und die Einnahme der heiligen Stätten des Islam – Mekka und Medina sowie Jerusalem – durch die radikalislamischen Dschihadisten des Bin-Laden-Clans.





Patriot Act – Ausgehöhlte Bürgerrechte

Immer wieder werden den USA  in ihrem Krieg gegen den Terror gravierende Menschen- und Bürgerrechtsverstöße angelastet: Schlafentzug und Waterboarding in Guantanamo Bay, die Verschleppung von Verdächtigen in osteuropäische und asiatische CIA-Geheimgefängnisse (sog. Black Sites), aber auch die massenhafte Überwachung ihrer eigenen Staatsangehörigen beispielsweise durch den Patriot Act: Am 25. Oktober 2001 erlassen und zum Großteil bis heute gültig, erlaubt es das Bundesgesetz den Angehörigen der US-Geheimdienste seitdem, auch ohne richterliche Befugnis geheime Lauschangriffe gegen Verdächtige zu tätigen. In den seltensten Fällen geht es den Ermittlern dabei tatsächlich um mutmaßliche Terroristen, wie eine Studie der Electronic Frontier Foundation verdeutlicht: Wurden in den USA zwischen 2001 und 2003 47 US-Bürger observiert, stieg deren Zahl in der Obama-Ära sprunghaft an – von fast 4.000  (2010) auf über 11.000 (2013). Von letzteren standen gerade einmal 51 Personen unter Terrorismusverdacht. Dem großen Rest wurden Geldwäsche und Drogendelikte angelastet.