© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Berlin, dein Mund ist viel zu groß
Wahl I: Die Hauptstadt wählt ein neues Abgeordnetenhaus / Die Weichen stehen auf Rot-Grün-Rot
Ronald Berthold

Nun probiert es die Berliner CDU mit exakt demselben Slogan wie die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern. „AfD stoppen!“ plakatiert sie in den letzten Tagen vor dem Urnengang ebenso großformatig wie eine Woche zuvor die Konkurrenz aus dem Nordosten. Am Sonntag wählt die Hauptstadt ihr neues Abgeordnetenhaus. Auch hier werden SPD und CDU wohl stark an Stimmen verlieren, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar ihre Regierungsfähigkeit.

Denn Umfragen zufolge werden die beiden einstigen Volksparteien gemeinsam nur 40 Prozent erreichen. Die SPD taxiert Infratest dimap bei 21, die CDU bei 19 Prozent. Andere Institute sehen die Union noch tiefer sinken. Die von Innensenator Frank Henkel angeführte Partei muß sogar aufpassen, nicht hinter die Grünen (16 Prozent) auf Platz 3 zurückzufallen. Dicht dahinter folgen bereits gleichauf AfD und Linke mit je 15 Prozent, so daß zwischen Platz 1 und Platz 5 möglicher Weise nur sechs Prozentpunkte liegen werden. Ein Wiedereinzug der Piraten, die 2011 noch 8,9 Prozent holten, scheint ausgeschlossen (siehe unten).

Berlin weist die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung auf. Diese Zahl heftet sich die Große Koalition als Erfolg an, doch anders als in früheren Wahlkämpfen scheint das den Regierungsparteien nichts zu nutzen. Zu dominant erscheint vielen Berlinern das eklatante Versagen beim Großflughafen BER, dessen Aufsichtsrat nach wie vor von Politikern dominiert wird. Das Versprechen, dort mehr Fachleute unterzubringen, konnte die CDU nicht einlösen. Henkel, der gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) in dem Gremium sitzt, will sich kurz vor der Wahl nicht mehr auf einen Eröffnungstermin festlegen. Eigentlich sollte der BER nach zahlreichen Verschiebungen im kommenden Jahr eröffnet werden, doch nicht einmal das möchte der Innensenator noch bestätigen.

Eine weitere Baustelle im übertragenen Sinne ist das totale Chaos in den Bürgerämtern. Dort einen Termin zu bekommen, um den Ausweis oder den Paß zu verlängern bzw. sich umzumelden, grenzt nach wie vor an ein Ding der Unmöglichkeit. Aufgrund dieser Verhältnisse macht das Wort vom „failed state“ die Runde. Berlin befindet sich in der Wahrnehmung vieler seiner Einwohner hier auf einem Niveau mit Dritte-Welt-Ländern. Daß man windigen Geschäftemachern Geld dafür bezahlen muß, um überhaupt einmal in der Behörde vorsprechen zu dürfen, verstärkt diesen Eindruck. Der Senat schiebt die Verantwortung dafür auf die Bezirke.

Stürzt die SPD ab,         sind Müllers Tage gezählt

Im Straßenwahlkampf und auf Plakaten spielen diese Themen aber eine merkwürdig untergeordnete Rolle. Weder AfD noch FDP, die den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus mit gemessenen vier bis fünf Prozent schaffen könnte, nutzen diese Steilvorlage für klare Angriffe auf den Senat. Wobei nichtzerstörte Wahlplakate der neuen Partei ohnehin eine Seltenheit sind. Oft sind diese sogar im organisierten und großen Stil von Unbekannten abmontiert und gestohlen worden. Auch diese zweifelhaften Methoden – genau wie Anschläge auf Politiker und Büros der AfD – finden unterhalb der Wahrnehmungsgrenze statt, da die Hauptstadtmedien darüber so gut wie nicht berichten.

Berlin könnte für die junge Partei das erste Bundesland sein, in dem sie Regierungsverantwortung übernimmt. Denn gleichzeitig finden die Wahlen zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen statt. Die Stadtratsposten erhalten die Parteien nach ihrer jeweiligen Stärke. Nur die Bezirksbürgermeister werden durch sogenannte Zählgemeinschaften, also Quasi-Koalitionen, bestimmt.

Auf Landesebene stellt die innere Sicherheit ein großes Problem dar. Linksextremisten zünden beinahe jede Nacht ein halbes Dutzend Autos an, attackieren Streife fahrende Polizeifahrzeuge mit Steinwürfen und horten Schlagwerkzeuge in von ihnen besetzten Häusern. Angriffe auf Homosexuelle gehören inzwischen ebenfalls zum Alltag, seitdem zugewanderte und radikalisierte Muslime ihre Moralvorstellungen mit Gewalt durchzusetzen versuchen. Die CDU, die bereits fünf Jahre den Innensenator stellt, plakatiert nun „Mehr Polizei“. Überhaupt haben viele frühere Anhänger der Partei den Eindruck, daß Frank Henkel nur durch die nahenden Wahlen das Thema erkannt hat, für das er zuständig ist.

Einsätze gegen militante Linksextreme, vor allem gegen deren Zentrale, ein besetztes Haus in der Rigaer Straße in Friedrichshain, hat der 52jährige erst in den Monaten vor der Wahl initiiert. Gegen Migranten und deren Unterstützer, die vor dem Ausbruch der Flüchtlingskrise monatelang den Oranienplatz in Kreuzberg besetzten, tat er nichts. Es entstand wie an zahlreichen anderen Orten eine No-go-Area.

Auch die afrikanischen Drogendealer im Görlitzer Park können trotz zahlreicher Gewaltdelikte ungestört ihr Unwesen treiben. Inzwischen ist bereits der nächste Ort gekippt: Der Kleine Tiergarten. Hier in Moabit, unweit des Regierungsviertels, hat sich ebenfalls eine Rauschgifthändler- und Taschendiebszene etabliert, die Anwohner und zahlreiche Berliner, die von der U-Bahn in den Bus umsteigen, terrorisiert. Die von Henkel verantwortete Polizei greift nun nach einer langen Zeit des Wegschauens kurz vor der Wahl zwar ein, aber auch hier erscheint sie machtlos. Die Verhältnisse bessern sich nicht.

Als Wahlziel gibt der CDU-Chef bei jeder Gelegenheit aus, Regierender Bürgermeister werden zu wollen. Wie das allerdings funktionieren soll, bleibt rätselhaft. Denn um eine Koalition zu schmieden, wird es ziemlich sicher drei Parteien benötigen. Für die CDU kommt jedoch nur die SPD als Partner in Betracht, eine Zusammenarbeit mit der AfD hat Henkel kategorisch ausgeschlossen, und auch die Sozialdemokraten sind zu einem solchen Dreierbündnis nicht bereit.

Daher läuft in Berlin alles auf eine Koalition aus SPD, Grünen und Linken hinaus. Der Regierende Bürgermeister hat sich darauf längst offen festgelegt und die Union bereits jetzt de facto vor die Tür gesetzt. Ob allerdings Michael Müller Rot-Grün-Rot noch anführen wird, erscheint ungewiß. Der gelernte Drucker hat eine breite Front an Funktionären gegen sich. Ein Absturz auf knapp über 20 Prozent könnte der Anlaß sein, den 51jährigen zu stürzen.

Für diesen Fall steht der arabischstämmige Raed Saleh (39) bereit – von einer starken Hausmacht gestützt. Der bisherige SPD-Fraktionsvorsitzende würde die Hauptstadt dann die nächsten fünf Jahre regieren. Als seine Stellvertreterin wird die grüne Co-Spitzenkandidatin Ramona Pop gehandelt.