© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Hollywoods globaler Sieg
Mehr Kunstgewerbe als große Literatur: Zu Christian Krachts neuem Roman „Die Toten“
Thorsten Hinz

Der Schriftsteller Christian Kracht ist ein Meister der Aufmerksamkeitsökonomie. Er kann es sich leisten, im Kulturbetrieb durch Abwesenheit zu glänzen, was ihm den Nimbus der Exklusivität verleiht, der ihn in einer speziellen Weise doch wieder anwesend sein läßt. Das verhält sich wie mit dem Sessel auf der übervollen Stehparty, der reserviert bleibt für den einen, den besonderen Gast, von dem man nicht weiß, wann er auftauchen wird und ob überhaupt. Um so lauter ist dann das Hallo, wenn er tatsächlich erscheint und Platz nimmt. Das klappt natürlich nur, wenn die Darbietung, die er dann abliefert, die Erwartungen der Umstehenden nicht enttäuscht. 

Bisher hat Kracht, 1966 in der Schweiz geboren und als Sohn des damaligen Generalbevollmächtigten des Axel-Springer-Verlags in begüterten Verhältnissen aufgewachsen, die Erwartungen erfüllt, wenn er im Vier-, Fünf- oder Sechsjahresrhythmus jeweils einen neuen Roman veröffentlichte. Charakteristisch für diese sind ihre überraschenden, bis ins Absurde reichenden Plots und das Changieren zwischen Popkultur und, sagen wir, Hölderlin. Darüber hinaus bedienen sie eine moderne Form des Fernwehs und ist ihnen eine einschüchternde Wirkung eingeschrieben: Sie vermitteln eine Weltläufigkeit, die in der kosmopolitischen Existenz des Autors gründet. Krachts Figuren bewegen sich in der Südsee, im Iran, in Tibet oder Zentralafrika so überzeugend wie auf Sylt oder in Heidelberg. Vor ihnen sinkt die „Weltoffenheit“ der intellektuellen Massentouristen – also auch der meisten Kritiker – komplexbeladen in den Staub.

Der neue Roman spielt in den frühen 1930er Jahren in Japan, in der Schweiz, in Berlin und in Hollywood. Es überkreuzen sich die Lebenslinien des Filmregisseurs Emil Nägeli, der einen esoterischen Bergfilm gedreht hat, in dem der japanische Filmverantwortliche Masahiko Amakasu, der von der europäischen, insbesondere der deutschen Kultur begeistert ist, ein Beispiel sieht, wie man „mit den Mitteln der Filmkunst innerhalb der Ereignislosigkeit das Heilige, das Unaussprechbare“ aufzeigt. Wer den Namen der Figur bei Google eingibt, erfährt, daß es für sie ein Vorbild gibt. Der reale Amakasu lebte von 1891 bis 1945. Er leitete eine Abteilung der Militärpolizei, die 1923 mehrere politische Gegner ermordete. 1939 wurde er der Leiter der „Mandschurischen Filmgesellschaft“, die den chinesischen Film vereinnahmte. Er handelte auch mit Ufa-Filmen und vermittelte diese nach Japan weiter. Bei Nägeli darf man an den Filmregisseur Arnold Fanck denken, der in den zwanziger und dreißiger Jahren mit ambitionierten Bergfilmen bekannt wurde und unter anderem mit Leni Riefenstahl arbeitete.

Amakasu ist gegen den Tonfilm eingestellt, weil er nach seiner Meinung zur kulturellen Banalisierung führt. Er plant „eine zelluloidene Achse zu bauen zwischen Tokio und Berlin“, um den Angriff aus Hollywood abzuwehren. Die Amerikaner dringen darauf, den japanischen Filmmarkt, zu dem auch Korea, Taiwan und Mandschukuo gehören, für amerikanische Filme zu öffnen. Anderenfalls würden sie „in Zukunft nicht nur alle Schurken, sondern auch generell die negativ konnotierten Figuren sämtlicher US-Produktionen ausschließlich mit japanischstämmigen Schauspielern besetzen“. Das ist eine Paraphrase über die globale Macht Hollywoods und ein eigenwilliger Hinweis auf die Vorgeschichte des Pazifikkrieges zwischen Japan und den USA.

Amakasu bittet die Ufa um Unterstützung, die daraufhin Nägeli nach Japan schickt mit dem Auftrag, er „müsse einen Gruselfilm drehen, eine Allegorie, bitte sehr, des kommenden Grauens“. Nägeli reist um so lieber, weil seine aus Deutschland stammende Frau Ida, eine Schauspielerin, bereits in Japan weilt, wo sie ihre Karriere vorantreiben will. Sie liebt es, in Fliegeruniform aufzutreten, was wiederum an Leni Riefenstahl im Film „SOS Eisberg“ anspielt, den Arnold Fanck 1933 fertigstellte.

Das Buch hat drei Kapitel, deren Konzept – wie im Roman selbstreferentiell erklärt wird – der des No-Theaters folgt, „welches besagt, das Tempo der Ereignisse solle im ersten Akt, dem jo, langsam und verheißungsvoll beginnen, sich dann im nächsten Akt, dem ha, beschleunigen, um am Ende, dem kiu, kurzerhand und möglichst zügig zum Höhepunkt zu kommen“.

Allerdings kommt alles anders, als die Achsen-Planer sich das denken. Das läßt schon die Eingangsszene erahnen, in der ein junger Offizier vor laufender Kamera den Seppuku, den rituellen Suizid begeht, bei dem der Selbstmörder sich mit einer speziellen Klinge den Unterbauch aufschneidet. Die Szene übernimmt die Schilderung aus der Erzählung „Patriotismus“ des japanischen Autors Yukio Mishima, der im November 1970 seiner literarischen Vision folgte und nach einem resonanzlos gebliebenen Putschversuch ebenfalls Seppuku beging – als Protest gegen die Entsakralisierung des Kaisers, der Nation und seiner Kultur. Amakasu sendet die brutalen Filmaufnahmen nach Berlin in der Annahme, die Deutschen würden „die Transfiguration des Schreckens zu etwas Höherem, Göttlichen“ gut verstehen. Soll heißen: Die Achse Tokio-Berlin ist von Anfang an ein Rendezvous zum Doppelselbstmord!

Die Handlung mündet in einen irrsinnigen Parforceritt aus Slapstick-Szenen. Der beliebteste Schauspieler in Japan heißt Charlie Chaplin. Der weilt gerade zu Besuch, als rebellierende Offiziere den Ministerpräsidenten töten. Der spätere Darsteller und Regisseur des „Großen Diktators“ begeht auf der Rückreise einen Mord, der niemanden interessiert, weil Sieger unantastbar sind.

Nägeli schlägt sich in die Schweiz durch, wo er den esoterischen Stummfilm „Die Toten“ vorstellt, den er in Japan statt des angekündigten Vampirfilms gedreht hat. Der Erfolg ist mäßig. Einige Zeitungen nennen ihn zwar einen Avantgardisten und Surrealisten, die Neue Zürcher Zeitung aber, auf die es ankommt, bezeichnet ihn als „debil“.

Ida hofft auf eine Karriere in Hollywood, scheitert und erklettert den Buchstaben H des riesigen Schriftzuges, der auf den Hügeln über der Filmstadt prangt. Von oben fällt sie in ein Kakteenfeld. Eine Zeitschrift, die sich auf spektakuläre Todesfälle spezialisiert hat, schreibt, „sie sei wie ein Feuer gewesen, das im Kiesel schläft“. Das ist eine Metapher von Hölderlin. Das Banale hat das Heilige vereinnahmt, Hollywoods Sieg ist total.

Das ist von Kracht raffiniert erzählt und gebaut, es liest sich flüssig und unterhaltsam, doch handelt es sich mehr um Kunstgewerbe als um großes Theater oder Literatur. Der Autor verkompliziert und verklausuliert, was allen, die gewohnheitsgemäß über den Tellerrand blicken, ohnehin bekannt ist. Was Hans-Jürgen Syberberg in seinem Essay „Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege“ im Tonfall der Elegie ausbreitete, schildert er als Farce. Der Rest ist Spielerei. Kracht spielt mit Begebenheiten und Namen (unter anderem treten Alfred Hugenberg, Siegfried Kracauer – Verfasser des Buches „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ –, Fritz Lang und Heinz Rühmann auf), er spielt mit Anachronismen und läßt die jüdischen Künstler und Intellektuellen, die nach der NS-Machtergreifung mit dem Zug ins Exil flüchten, sich im Speisewagen besaufen und über das Raunen der deutschen Wälder sinnieren – ein hingeworfener Knochen für die überkorrekten Beißhunde unter den Kritikern.

Ida, Amakasu und Nägeli sind allesamt große Nägelknabberer, was auf Autoaggression schließen läßt und an ihre schwere Kindheit erinnert. Amakasu bearbeitet sogar seine Zehen und leckt die blutige Klinge ab, mit der er eine rohe Schweineleber zerteilt hat, weil er den Geschmack des Stahls liebt. Das eine mag als Ironisierung des Leitmotivs bei Wagner und Thomas Mann gedacht sein, das andere als Ekel-Variante des Brechtschen „Glotzt nicht so romantisch!“, doch im Grunde handelt es sich um prätentiös dargebotene Banalitäten. Banal ist auch der Titel „Die Toten“. Tatsächlich sind die meisten Figuren  zum Schluß tot, irgendwie sind auch die Leser bloß Tote auf Urlaub, und Joyce hat seine letzte Erzählung genauso betitelt. Wie schön und bedeutungsvoll!

Natürlich wird Kracht auch mit diesem Roman reüssieren, doch sein Sound fängt an, sich zu erschöpfen.