© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Tragödie im Windschatten des Großen Krieges
Vor 100 Jahren brach die Talsperre der Weißen Desse im nordböhmischen Isergebirge
Heinz Noack

Das Isergebirge im äußersten Nordosten der einstigen Donaumonarchie gilt als schneesicher, weist aber auch im Frühjahr und Herbst eine große Menge an Niederschlägen auf. Diese fließen in die Weiße und Schwarze Desse die sich im nordböhmischen Industriestädchen Dessendorf (Desná) zur Desse vereinen, bevor diese über die Kamnitz von der Iser und schließlich der Elbe aufgenommen werden. Nach der Schneeschmelze und in Regenperioden kam es im 19. Jahrhundert mehrfach zu verheerenden Flutkatastrophen, so in den Jahren 1858, 1875, 1885 und 1888. Nach dem Jahrhunderthochwasser von 1897 entschlossen sich die regionalen k.u.k.-Behörden, durch den Bau von Talsperren Abhilfe zu schaffen. 

Dessendorfs Gründung geht auf das Jahr 1691 zurück. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in der Umgebung zahlreiche Glashütten und Schleifereien erbaut und somit die Grundlage für eine berühmte Glasindustrie gelegt. Bereits 1902 votierte der Großindustrielle Josef Riedel, der 1.350 Menschen in seinen Glashütten beschäftigte, für eine Talsperre an der Schwarzen Desse. Um fortan Überschwemmungen zu vermeiden und eine geregelte Wasserzufuhr zu ermöglichen, erarbeiteten die Ingenieure Otto Intze aus Laage in Mecklenburg und W. Plenker aus Prag die entsprechenden Projekte bis 1908. Es waren langwierige Verhandlungen notwendig, um endlich 1911 von der k.u.k. Bezirkshauptmannschaft Gablonz der Flußregulierungskommission die Baubewilligung zu erhalten – und die staatliche Subvention von 1.062.400 Kronen. Letztere war an die Bedingung geknüpft, an der Kamnitz, der Schwarzen und Weißen Desse gleichzeitig Talsperren zu errichten. 

Der Bau an der Talsperre der Schwarzen Desse begann am 11. August 1911, und bereits ein Jahr später wurde die Technik zum Dammbau zur Weißen Desse umgesetzt. Am 30. Juni 1912 erfolgte eine Probestauung, die ohne Beanstandungen verlief. Die Talsperre war als Erddamm ausgeführt worden, einer Technik, die zur damaligen Zeit in Europa eher ungebräuchlich war. Die Sole der Talsperre lag bei 806 Metern und hatte eine Dammhöhe von 14 bis 16 Metern. Zur Abdichtung des Untergrundes wurde an der Wasserseite des Dammes ein bis über vier Meter tiefer und drei Meter breiter Lehmkern eingestampft und eine Spundwand eingetrieben. Der Untergrund, der aus keinem gewachsenen Fels bestand, sondern aus verwittertem Granit, wurde dennoch von den Sachverständigen als geeignet befunden. Trotzdem wurden die 400.000 Kubikmeter Wasser der Talsperre ständig überwacht, so auch am Unglückstag, dem 18. September 1916. 

Mitten im Krieg setzte eine Spendensammlung ein

Der Ort lag in spätsommerlicher Milde, als sich am Nachmittag gegen 16 Uhr die Wassermassen der Talsperre in einer acht Meter hohen Lawine zusammen mit Holzstämmen und Felsbrocken unter gewaltigem Getöse in das enge Tal stürzten. Mit ungeheuerer Wucht ergossen sich die Schlammassen über Dessendorf und das benachbarte Tannwald. Alles, was im Weg stand, wurde mitgerissen, 62 Einwohner starben, 33 Häuser wurden völlig zerstört, 69 waren stark beschädigt. Sofort setzte trotz der Kriegszeiten eine spontane  Geld - und Sachspendensammlung in Österreich-Ungarn ein. Sogar Kaiser Franz Josef spendete aus seiner Privatschatulle 20.000 Kronen. Im März 1918 besuchte Kaiser Karl I. das immer noch stark mitgenommene Städtchen Tannwald.Bereits am 20. September rückte das ungarische 44. Infanterieregiment 44 aus Reichenberg zur Beseitigung der Schäden an. Sie bauten Brücken über die Desse, setzten Straßen wieder instand. Der Hofrat der Stadthalterei Podhajsky verübte Selbstmord, weil er sich verantwortlich wähnte. Doch erst 1932 sollte ein Prozeß die Verantwortung an der Katastrophe klären, der aber ohne Schuldspruch endete. 

Die Talsperre der Weißen Desse wird noch heute als die „Gebrochene Talsperre“ (tschechisch Protrzena prehrada) bezeichnet, von der nur der Kontrollturm noch existiert. 1937 enthüllte die Ortsgruppe Dessendorf des Deutschen Gebirgsvereins für das Jeschken- und Isergebirge einen Gedenkstein, der an das Unglück erinnert enthüllt. Er steht auf einer Brücke im Ort und trägt jetzt die Inschrift in tschechischer Sprache.