© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Wenn das brodelnde Magma ausbricht
Werner Patzelt und Joachim Klose analysieren das Phänomen Pegida: Vorbote politischer Kräfteverschiebung
Paul Leonhard

Pegida ist eine Form der Meinungsäußerung als Demonstration.“ So definierte Sachsens früherer Ministerpräsident Kurt Biedenkopf unlängst im Fernsehen ein Phänomen, dem eine Führungselite in Deutschland mehr als skeptisch gegenübersteht: den allmontäglich in Dresden sich zu einem Rundgang und zwei Kundgebungen treffenden besorgten Bürgern. Die Menschen hätten einfach Angst, weil die Politik ihnen nicht sagen könne, was der anhaltende Zuzug von Flüchtlingen für sie bedeute und wie sie damit umgehen sollen, so Biedenkopf. Dazu komme: „Die Dresdner sind ein Völkchen für sich.“ Die jetzt Sachsen regierenden Parteifreunde erinnerte Biedenkopf daran, daß die Führung eines Landes auch die Aufgabe habe, herauszufinden, was passiert und warum etwas passiert: „Dazu müssen sie aber mit den Leuten reden.“

Nicht anders sehen die Schlußfolgerungen aus, zu denen die Wissenschaftler Werner Patzelt, Professor für Systemvergleich an der TU Dresden, und Joachim Klose, Gründungsdirektor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für den Freistaat Sachsen, in einer großangelegten Ursachenforschung und Analye zu Pegida kommen. Die deutsche Politik habe sich mit „großer Fahrlässigkeit auf Veränderungen Deutschlands eingelassen, deren Anschlußprobleme beginnen, große Teile der Bevölkerung zu ängstigen und zu spalten“, benennt Patzelt die Probleme: „Da sollte eine Einwanderungsgesellschaft entstehen ohne klare Einwanderungs- und Integrationspolitik.“

Dresdens Pegida mit ihren für Deutschland neuartigen Demonstrationen habe einerseits den Nerv vieler Deutscher getroffen, sei andererseits von Politik und Medien einhellig abgelehnt worden, die „mit den traditionellen Anti-Rechts-Reflexen“ reagierten und bis heute die Pegidianer als Rassisten und Rechtsextremisten diffamieren. Dieses traditionelle Deutungsschema verstelle aber den Blick auf Neues. Deswegen lohne es sich, bei Pegida genau hinzusehen, um dieses politische Phänomen zu verstehen und sich dann ein Urteil zu bilden.

Eine eigene Urteilsbildung ermöglichen Patzelt/Klose Interessierten mit ihrer unter dem Titel „Pegida. Warnsignale aus Dresden“ erschienenen, umfangreichen Materialsammlung, die nicht nur die – von den Massenmedien weitgehend verschwiegene oder zumindest verächtlich gemachte – Programmatik von Pegida enthält, sondern auch Stimmung und Reden auf den montäglichen Kundgebungen wiedergibt, Merkmale, Motive, Denken und Selbstdarstellungen von Pegidianern einfängt und letztlich ermöglicht, daß sich „fortan auf gemeinsamer Faktengrundlage jener streitige Diskurs führen ließe, den ein so wichtiges Thema wie der Pegida/AfD-Komplex nun einmal braucht“.

Die Autoren zeichnen den Weg einer Bewegung nach, die es aus unscheinbaren Anfängen heraus schaffte, zwischenzeitlich „wöchentlich weit mehr Leute auf die Straße“ zu bringen, „als sie alle unsere politischen Parteien bei ihren Veranstaltungen zu mobilisieren vermögen“ und die bis heute regelmäßig protestierend durch das Dresdner Stadtzentrum ziehen. Pegida gilt Patzelt und Klose als ein Ausbruch von Magma, wie es überall in Deutschland unter der Oberfläche brodelt, aber für seinen Ausbruch das konservative Klima einer Großstadt wie Dresden bedurfte, mit soziokulturellen Überformungen, vor der Wahrheit die Augen verschließenden Politikern und einem aktiven Anti-Rechts-Netzwerk. Pegida sei der „ostdeutsche Vorbote jener politischen Kräfteverschiebung, die mit den jüngsten Wahlerfolgen der AfD auch in Westdeutschland unübersehbar wurde“. Pegida und AfD werten die Autoren dabei als „Formen desselben Phänomens“.

Die Reden bei Pegida waren nicht rechtsextrem

Schnellen Zulauf habe Pegida erhalten, weil es die Politik versäumt habe, die monatelang von den Demonstranten ausgehenden Hinweise auf falsche Entwicklungen aufzugreifen, und stattdessen die Besorgten im Schulterschluß mit den Massenmedien diffamierte und sogar von linken Aktivisten die Forderungen übernahm, wonach im Fall von Pegida Grundrechte wie Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit auszusetzen und die Demonstranten geheimdienstlich zu beobachten seien. Die bei Pegida bekundete Aversion gegen die „Mainstreammedien“ macht sich nicht zuletzt deswegen durch die Bezeichungen „Lügenpresse“ Luft. 

Durch manche Journalisten wurden „Fakten oft so ausgewählt, aneinandergereiht und sprachlich umkleidet, daß der Leser oder Zuschauer zielgerichtet zum Urteil geleitet wurde: ‘Pegida ist schlecht, Pegidianer sind dumm und gemein, die Gegner von Pegida stehen für das Gute – und auf deren Seite sollte jeder stehen’“, heißt es in der Studie. Mit dem Resultat, daß sich bei allen, „die nie Augenzeugen einer Dresdner Pegida-Demonstration waren, als feststehendes Wirklichkeitsbild festgesetzt hat, daß da wöchentlich Rassisten und Faschisten ausländerfeindliche Parolen brüllen, sich in Hetzreden ergehen und nur durch starke Polizeipräsenz davon abzuhalten sind, nach der Kundgebung als brauner Mob durch Dresdens Innenstadt eine Spur der Zerstörung zu ziehen“.

In ihrer Studie weisen sie nach, daß keine der während der Pegida-Kundgebungen gehaltenen Reden die Kernkriterien von Rechtsextremismus erfüllt. Gefordert wurde nicht die Autorität eines starken Führers, sondern mehr Demokratie, kein Bruch mit den Verhältnissen, sondern geordnete Verhältnisse, die Durchsetzung von Recht und Gesetz. Die Pediganer und ihre  Sympathisanten sind zwar politisch rechtsstehende, doch ansonsten vom Durchschnitt der Bevölkerung nicht abweichende Bürger, „die sich mehr und mehr Sorgen um die Folgen einer Einwanderungspolitik ohne gelingende Integration machen“, so die Autoren. Aus ihrer Sicht ist Pegida „schlicht der eruptive Durchbruch des – in Gestalt der AfD wohl auch durchhaltefähigen – Rechtspopulismus in Deutschland“.

Redlich seitens der Politik wäre gewesen, wenn diese bei Pegida genau hingesehen und unbegründete Anliegen von begründeten unterschieden sowie untauglichen Lösungsvorschlägen taugliche gegenübergestellt hätte. Der CDU raten Patzelt/Klose, die von ihr heimatlos gemachten Konservativen und Rechten wieder einzubinden. Gut wäre es, wenn Linke, SPD und Grüne den Christdemokraten geradezu die Integration des „rechten Randes“ abverlangen würden. Den Pegida-Organisatoren empfehlen die Autoren, endlich das Gespräch mit Journalisten zu suchen und sich um Verbündete in Parteien, Parlamenten und Medien zu bemühen. Versiegen werde Pegida wohl erst dann, wenn der Staat die „Einwanderungs- und Integrationsprobleme wieder glaubwürdig und wirkungsvoll im Griff haben sollte, oder wenn die AfD als Partei sowohl in den Parlamenten all das thematisiert, was Pegida auf der Straße ins öffentliche Gespräch zu bringen versuchte“.

Werner J. Patzelt, Joachim Klose: Pegida. Warnsignale aus Dresden. Thelem Universitätsverlag, Dresden 2016, 650 Seiten, gebunden, 22 Euro