© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Pankraz,
Mephisto und das Nachhausekommen

Zu Hause ist es doch am schönsten“, seufzte ein Freund, der sich vom Urlaub zurückmeldete. Seine Frau stimmte ihm scheinbar zu. „Das Schönste am Urlaub“, sagte sie, „ist das Nachhausekommen.“ Erst später fiel Pankraz die beträchtliche Differenz zwischen den beiden Sätzen auf. Der erste war statisch, der zweite transitorisch. Der erste zielte auf einen Dauerzustand, der zweite auf ein flüchtiges Ereignis, eben das Nachhausekommen, das ja spätestens nach der ersten Nacht im eigenen Bett schon wieder zu Ende ist.

Die Frau hatte offenbar Glück gehabt. Alles war an seinem erwarteten Platz gewesen. Daß so etwas keineswegs die Regel sein muß, weiß man nicht erst seit neuerem. Schon alte Witzblätter geben davon Zeugnis. Dort gibt es zahlreiche peinvolle Formen des Nachhausekommens. Die Hausbesorgerin ist mit der Schmuckschatulle durchgebrannt, Diebe haben die häusliche Villa heimgesucht, die Geranien auf dem Balkon sind vertrocknet, die Blumenrabatten im Garten niedergetrampelt, der Briefkasten quillt über von Rechnungen, die Haustiere der Kinder, der Kanarienvogel und die mongolische Rennmaus, sind unter der lässigen Obhut des Nachbarn elend verstorben oder für immer entflohen.

Wer sich von solchen und ähnlichen Enttäuschungen freihalten will, der muß, noch bevor er in den Urlaub fährt, das Nachhausekommen sorgfältig vorbereiten, Der stellvertretende Hüter des Hauses sollte absolut zuverlässig und vertrauenswürdig sein, der ganze Haushalt resolut auf Sparflamme gedreht werden, damit es für die nächsten Wochen kein ungezügeltes Inskrautschießen geben kann. Rechnungen sollten unbedingt im voraus beglichen werden. Auch empfiehlt sich vor Urlaubs-

antritt ein exaktes Aufarbeiten unerledigter Vorgänge, ein sauberes Aufräumen des Schreibtisches, denn nichts kann verhängnisvoller sein als das Liegenbleiben von Entscheidungen, die während der Zeit der Abwesenheit ein bedrohliches Eigenleben zu entfalten pflegen.


Hat man gut vorgesorgt und ist einem das Schicksal hold, dann kann das Nachhausekommen wirklich zu einem feenhaften Erlebnis, zu einem wahren Jungbrunnen werden. Man sieht die vertrauten Konturen wie unterm Glanz des Regenbogens nach schwerem Gewitter, sie sind vertraut und doch auch funkelnd neu, und man findet sich mit wahrer Eleganz und Leichtigkeit in sie hinein, weil jedes Tun ein freudiges Sichwiedererinnern ist. Wie niedlich bunt und graziös geordnet erscheint einem die stille heimatliche Vorortstraße! Wie herzlich ist das Willkommen der Nachbarn, wie wohlig sinnbetäubend das erste Sitzen im langentbehrten Lieblingssessel, der erste Spaziergang durch den unversehrten Garten! Kein Erlebnis der Fremde gibt es, das diesem Sichdehnen im wiedergewonnenen Eigenem gleich käme.

Goethe hat das Glück des Nachhausekommens im zweiten Teil des „Faust“ unvergleichlich eingefangen. Mephisto und Faust haben die tollen Tage in der kaiserlichen Pfalz hinter sich, Faust hat die exotischsten Abenteuer absolviert, er ist „bei den Müttern“ gewesen und hat Helena geschaut – nun ist er zurückgekehrt in seine hochgewölbte gotische Studierstube, von wo er einst ausgegangen war, um Gretchen zu vernichten. Er ist zu Hause, er liegt endlich wieder im eigenen Bett, und sein Schlaf ist so tief und erholsam, daß nicht einmal Mephisto an ihn rühren kann. Zwar tröstet der sich damit, daß Helena Faust „paralysiert“ habe, aber er weiß doch auch, daß Faust nur im eigenen Bett jenen Schlaf finden wird, der ihn für künftige Exkursionen wieder fit macht und wappnet.

Und während Faust also schläft, wandert Mephisto im Zimmer herum und feiert auf seine negative Weise nicht weniger enthusiastisch das Nachhausegekommensein. Er findet alles noch wie früher und weidet sich an der Erinnerung. „Die Tinte starrt, vergilbt ist das Papier; / Doch alles ist am Platz geblieben; / Sogar die Feder liegt noch hier, / Mit welcher Faust dem Teufel sich verschrieben. / Ja! tiefer in dem Rohre stockt / Ein Tröpfchen Blut, wie ich’s ihm abgelockt. / Zu einem solchen einzigen Stück / Wünscht ich dem größten Sammler Glück.“


Der Baccalaureus erscheint, der vor Zeiten als Schüler die fragwürdigen Weisheiten Mephistos eingesogen hat, und dieser, noch ganz unter dem Eindruck des Nachhausekommens, sagt zu ihm: „Ganz resolut und wacker seht Ihr aus; / Kommt nur nicht absolut nach Haus!“ Ein rätselvoller Satz, den die gewieftesten Faust-Interpreten nicht haben aufhellen können. Erich Trunz meint, Mephisto wolle hier den Baccalaureus vor dem deutschen Idealismus der Fichte und Hegel warnen, bei denen das Ich oder der Weltgeist sich absolut machen, indem sie „nach Hause kommen“. Pankraz aber glaubt eher, daß es Mephisto um das „Philistertum“, um die leider auch heute noch allzu häufig vorkommende Spießergesinnung zu tun ist, die sich in der Phrase „Zu Hause ist es doch am schönsten“ ausdrückt. Und er glaubt auch, daß Mephisto hier ausnahmsweise einmal einen guten Rat gibt.

„Absolutes“ Nachhausekommen kann ja nur bedeuten, daß einer sich ächzend und so schnell wie möglich in den heimatlichen Ohrensessel plumpsen läßt und sogar die getrockneten Blutflecken, die auf unseren Pakt mit dem Teufel hindeuten, ungerührt zur neugewonnenen häuslichen Gemütlichkeit rechnet. Doch das ist gerade nicht die rechte, fruchtbringende Form des Nachhausekommens. Zu dieser gehört höchste Sensibilität für das, was nicht in Ordnung ist, und aus dem vielleicht der Wille wächst, das Glück der Rückkunft über den ersten Tag hinaus tätig zu verlängern.

Was im eigenen Land und bei einem selbst schiefläuft, erfährt man nicht zuletzt im Blick aus der Fremde, und zwar ohne dabei das Fremde einfach nachahmen zu wollen. Oder, wie es einst sanft-sarkastisch der „Griechen-Müller“, nämlich der romantische deutsche Lyriker und Altertumsforscher Wilhelm Müller (1794–1827), ausdrückte: „An fremdem Tuch lernt jeder leicht den Schnitt. /  Doch bringt er gern die eigne Schere mit.“