© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Aus den Tiefen der Psyche entstiegen
Literatur: Herman Melvilles „Moby-Dick“ liest sich auch als Abgesang auf eine zerstörte Welt
Silke Lührmann

Sein Körper war weiß gestreift und gefleckt und marmoriert, so daß er zur Unterscheidung von anderen Walen den Namen der weiße Wal erhielt; ein Name, den er wahrhaftig rechtfertigte, wenn er am hohen Mittag durch das dunkelblaue Meer dahinzog, hinter sich eine Milchstraße von weißem Schaum, von goldenen Lichtern übersprüht. Doch es war nicht so sehr seine ungewöhnliche Größe, auch nicht seine Färbung oder der mißgestaltete Unterkiefer, was ihn den Walfängern so furchtbar machte, als vielmehr seine beispiellose Tücke und Schlauheit, die er bei seinen Angriffen immer und immer bewies. Vor allem seine hinterhältigen Rückzüge waren der Schrecken der Jäger. Denn mehr als einmal soll er mit allen Zeichen der Furcht vor seinen Verfolgern davongeschwommen sein, um dann plötzlich zu wenden, auf sie loszurasen und die Boote in Stücke zu schlagen“:

Die Willkür eines erbarmungslosen Schicksals

Hatten europäische Romanhelden sich im Kampf gegen Windmühlen verausgabt, so war der Pottwal, der Herman Melvilles Meisterwerk seinen Titel gibt, ein würdiger, seinem menschlichen Herausforderer in jeder Hinsicht gewachsener, wenn nicht gar überlegener Widersacher. Die Hauptfigur des Romans, der nicht nur den unvergänglichen Ruhm seines Autors, sondern gleich eine ganze Nationalliteratur begründete, ist kein gewöhnlicher Meeressäuger, sondern ein überlebensgroßes Sagenwesen, eher den Tiefen der Psyche als den vergleichsweise seichten Gewässern des Atlantik entstiegen.

Mann gegen Wal. Der Wal ist stärker – so bestechend einfach die Handlung, so atemberaubend ambitiös der gestalterische Rahmen, den Melville aufspannt. Die Themen des Großen amerikanischen Romans, an dessen Erfindung sich Anwärter von James Fenimore Cooper bis Thomas Pynchon, Don DeLillo und Jonathan Franzen abgearbeitet haben, sind hier mit kühnem Federstrich und sicherer Hand realisiert: der ewige Konflikt zwischen göttlicher Fügung, Willensfreiheit und der Willkür eines erbarmungslosen Schicksals, zwischen Allgemeinwohl und individuellem Glücksstreben; die unerbittliche Brutalität, die in der Neuen Welt seit jeher das Verhältnis des Homo europaeus zur Natur bestimmt; die Hybris, die einen Mann wie Ahab

dazu bringt, der Jagd auf den weißen Wal alles andere, bis hin zu seiner Menschlichkeit, zu opfern.

Wohl nicht zu Unrecht wird die dysfunktionale multikulturelle Gesellschaft an Bord der „Pequod“ gerne als Allegorie auf das radikal-egalitäre Experiment USA verstanden, dessen nachhaltigste Krise unmittelbar bevorstand: Nicht einmal zehn Jahre lagen zwischen der Erstveröffentlichung von „Moby-Dick“ im November 1851 und dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs im April 1861. 

Die erste Hälfte der 1850er, in denen neben „Moby-Dick“ auch Ralph Waldo Emersons Essayband „Repräsentanten der Menschheit“, Nathaniel Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“ und „Das Haus mit den sieben Giebeln“, Henry David Thoreaus „Walden“ und die Urfassung von Walt Whitmans Gedichtzyklus „Grashalme“ erschienen, gelten als anni mirabiles der sogenannten „American Renaissance“. Ein Dreivierteljahrhundert nach der politischen Unabhängigkeit war es höchste Zeit, sich auch kulturell von der britischen Kolonialmacht zu emanzipieren – ureigene Geschichten zu erzählen, statt epigonenhaft den Traditionen der Alten Welt verhaftet zu bleiben. Einen derart originär amerikanischen Stoff fand Melville in den Legenden und Aberglauben, die sich in den Walfangorten an der Nordostküste der USA um neuzeitliche Leviathane wie den gefürchteten Pottwal Mocha Dick, um von Walen gerammte und versenkte Schiffe wie die „Union“ und die „Essex“ rankten.

Der endgültige Sieger steht längst fest

Melville war als junger Mann selbst achtzehn Monate lang zur See gefahren und konnte hernach als Verfasser mehrerer Südseeromane einen nicht unerheblichen kommerziellen Erfolg verzeichnen. Die abenteuerliche Mischung aus Seemannsgarn, philosophischer Abhandlung, Walfang-Enzyklopädie, sozialwissenschaftlicher Versuchsanordnung, alttestamentarischem Rachefeldzug, homerischem Epos, shakespearianischer Tragödie, Horror-Schocker und Heldenreise, die „Moby-Dick“ für die Literaturkritik so unwiderstehlich reizvoll macht, fand beim zeitgenössischen Lesepublikum weit weniger Anklang. Zu Melvilles Lebzeiten wurden insgesamt nur 3.215 Exemplare der britischen und amerikanischen Ausgaben verkauft; 1866 gab der chronisch verschuldete Familienvater den Versuch auf, von der Schriftstellerei zu leben, und nahm eine Stelle als Zollinspektor im Hafen seiner Heimatstadt New York an.

Als er am 28. September 1891 im Alter von 72 Jahren verstarb, war das Werk, das er in einem Brief an seinen Freund Hawthorne als „böses Buch“ bezeichnet hatte, vergriffen. Seine Wiederentdeckung im Zuge der Moderne führte dazu, daß 1927 unter Thomas Manns Herausgeberschaft erstmals eine freilich nicht nur stark gekürzte, sondern auch sprachlich verstümmelte deutsche Fassung erschien. In der Folge von Melvilles 100. Todestag wuchs sich das Duell zwischen den Neuübersetzungen von Mat-thias Jendis und Friedhelm Rathjen, die schließlich 2001 bei Hanser respektive 2004 bei Zweitausendeins erschienen, zu titanischen Proportionen aus, die beinahe an die monumentale Wortgewalt des Originals heranreichten. 

Im Kampf Mensch gegen Wal steht der endgültige Sieger längst fest. Um die vollständige Ausrottung aller Walbestände zu verhindern, trat 1948 das Internationale Übereinkommen zur Regelung des Walfangs in Kraft; 1986 verabschiedete die Internationale Walfangkommission ein Moratorium, das die kommerziellen Fangquoten auf Null setzte, von Unterzeichnerstaaten wie Norwegen, Japan und Island jedoch konsequent unterlaufen wird.

So liest sich Melvilles Hymne auf das majestätische Seeungeheuer zugleich als Abgesang auf eine zerstörte Welt. Die Angst vor den mörderischen Kräften der Natur ist damit keineswegs gebannt. In den 1970ern versetzte ein Weißer Hai Badegäste in einem fiktiven neuenglischen Küstenort und Kinobesucher weltweit in Panik; erst im vergangenen Jahr verarbeitete Regisseur Ron Howard den historisch verbrieften Schiffbruch der „Essex“ im November 1820 und die anschließende dreimonatige Irrfahrt der acht überlebenden Besatzungsmitglieder in „Im Herzen der See“ zu einem packenden Actionfilm. Die eigentlichen Todfeinde jedoch, die heute Wissenschaftlern, Bestsellerautoren und ihren Lesern gleichermaßen Alpträume bereiten, sind nur noch in verschwindend geringer Zahl unterwegs.