© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Zum Begriff des Populismus
Lackmustest der Demokratie
Günter Scholdt

Ein Gespenst geht um in der Welt – der Populismus“, hieß es bereits 1969 in einem Tagungsband der London School of Economics. Und jenes halbironische Zitat steigerte sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem schrillen Alarmschrei etablierter Politiker und Medien. Sie alle posieren dabei als Drachenkämpfer, die ein die Zivilgesellschaft bedrohendes Monstrum fixieren. Dabei hat man den Begriff niemals konsistent definiert. Selbst der Mustersoziologe Ralf Dahrendorf zweifelte einmal, ob der Populist nicht einfach nur ein programmatisch ungeliebter, populärer Macht-Konkurrent sei.

Auch der in Princeton lehrende Jan-Werner Müller weiß von solchen Kalamitäten und gibt in seinem jüngsten Essay, im April bei Suhrkamp erschienen, etlichen Bedenken Raum. Sie betreffen zum Beispiel die Heterogenität der inkriminierten weltweiten Phänomene wie ihre unterschiedliche Bewertung. Es gibt Gemeinsamkeiten der angeprangerten Praktiken mit denen renommierter Politiker beziehungsweise Regierungen. Auch wird der Begriff unzulässig vermengt mit Antiintellektualismus, Radikalismus oder verantwortungslos simplifizierender Demagogie. Populisten geben auch einmal Anstöße zu Besserungen. Oder es findet sich Elitenarroganz gegenüber dem vermeintlich unzuständigen „Pöbel“. Zudem registriert Müller antipopulistische Gesprächsverweigerung als verfehlte Strategie.

Dennoch begnügt er sich nicht mit einer wertneutralen Erläuterung solcher Bewegungen und einer Funktionsbestimmung der Streitvokabel innerhalb der Sozialkontroversen. Vielmehr beansprucht er explizit, den definitorischen Code des Populismus geknackt zu haben, und präsentiert ihn als geschärfte argumentative Waffe zu dessen Bekämpfung. Dieser scheinkritisch-pseudodistanzierte Wissenschaftsgestus irritiert und legt die paradoxe Einschätzung nahe, das Buch sei klüger als sein Autor. Denn was immer der zuvor an Dekonstruktion geleistet hat, am Ende finden sich die altbekannten Urteile, die man von einem Suhrkamp-Bändchen erwartet, das heißt Schuldsprüche für Orbán, Blocher, Kaczynski, Pegida, AfD usw.

Nach Müller ist Populismus „zweifellos antidemokratisch“, eine der „modernen repräsentativen Demokratie inhärente Gefahr“. Er beanspruche hochmoralisch wie fundamentalistisch die antipluralistische Alleinvertretung des Volks, das derzeit von „falschen, ja korrupten Eliten repräsentiert“ werde. Populisten sähen sich als schweigende Mehrheit. Wo sie nicht herrschen, unterstellten sie, daß mit den Institutionen etwas „nicht in Ordnung“ sei. Volkswille sei aber vielschichtig und lasse sich jenseits von Wahlergebnissen gar nicht fassen. Und in der FAZ ergänzt er („Woran man sie erkennen kann“, 6. Mai 2016): „Was also beispielsweise die AfD zu einer populistischen Partei macht, ist kein bestimmter politischer Inhalt wie die Kritik an Euro-Rettungsmaßnahmen. Es ist die Behauptung, alle anderen Parteien bildeten ein illegitimes Kartell, das vom Volk beseitigt werden müsse.“

Soweit Müllers Idealtyp zur Abgrenzung von anderen Massenmobilisierungen. Doch welcher Realität entspricht er, falls er mehr sein sollte als ein bläßliches Konstrukt politischer Feindbestimmung? Konzentrieren wir uns bei der Replik (auch aus Platzmangel) konkret auf die deutschen Verhältnisse. Und da verrät ein schneller Rückblick, daß der Vorwurf illegitimer Repräsentanz des Volkes schon immer zum politischen Alltagsgeschäft der jeweiligen Opposition gehörte.

Jedem steht es frei, seine Meinung zu sagen? Schön wär’s! Just darum geht es hierzulande ja im Kern: um die wiederzuerobernde echte Meinungsfreiheit und ein repressionsfreies Sozialklima, das nur weniger gleichgeschaltete Medien garantieren. 

Kurt Schumacher nannte Adenauer einmal den „Kanzler der Alliierten“. Nachdem die Achtundsechziger zunächst die Bild-Zeitungsgebäude und anschließend zum Beispiel per SPD-Karriere die Rathäuser gestürmt hatten, verkündigten sie, erst jetzt wage man wirklich Demokratie. Kohl läutete mit seiner Kanzlerschaft angeblich eine moralische Wende ein. Die Friedensbewegung attackierte alle Befürworter des Nato-Doppelbeschlusses als kriegstreibende Interessenvertreter des US-Imperialismus. Die Grünen, zumindest in Vor-Kretschmann-Tagen, sahen die Regierenden als Handlanger einer Atom- beziehungsweise Industrielobby. Und Lafontaine, Gysi oder Wagenknecht bestreiten bis heute, daß das Volk durch unsere Regierung seine legitime Vertretung fand. Also, diese Unterscheidung taugt wenig.

Zudem finden sich aktuell zahlreiche Belege dafür, daß die Regierung in der Tat ganz eigene Vorstellungen von verantwortungsvoller Volksvertretung besitzt. Dies gipfelt in eklatanten Rechtsverstößen im Rahmen der EU-Verträge und der Massenimmigration (Stichworte: No-bail-out-Klausel, Dublin-Abkommen), die sogar namhafte Verfassungsrichter beunruhigen. Und daß Brüsseler Eurokraten mit ihren Pizza- oder Schnuller-Verordnungen wirklich den Willen ihrer Völker vollstrecken, scheint eine allzu kühne Annahme, von Herrn Draghis Finanzmanipulationen ganz abgesehen.

Auch mangelt es von höchster Warte aus allzu oft an Bodenhaftung, wie die EU-Kommissarin Viviane Reding bereits 2013 demonstrierte. Beantwortete sie doch den Warnruf deutscher Städte über die Folgen der Immigration auf nicht mehr zu karikierende Weise: Eine Armutswanderung sei empirisch nicht nachgewiesen. Kann man in Sachen basisferner Realitätsleugnung noch weiter gehen?

Und wo fände sich Müllers antipluralistischer Alleinvertretungsanspruch? Das AfD-Programm enthält ihn jedenfalls nicht oder zielte gar auf eine Neugestaltung außerhalb von Wahlergebnissen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Absicht dieser neuen Partei, die deutschen Verhältnisse per Wahlen und Abstimmungen zu ändern, hat unisono einen (wenig demokratischen) rasenden Affekt des politmedialen Establishments ausgelöst. Und der wiederum bestätigt anschaulich den Kartellcharakter hiesiger Machtverhältnisse.

Daß Müller aus seiner Princetoner Vogelschau diese idyllisiert, belegen weitere Ausführungen. Man dürfe natürlich auch Eliten als unrepräsentativ kritisieren, und jedem stehe „es frei, auf der Straße zu demonstrieren oder online mehr oder weniger nuanciert seine politische Meinung kundzutun“. „Aber nur Wahlen legitimieren letztlich verbindliche Entscheidungen.“ Wer verliert, dürfe dann „nicht quengeln, daß er doch eigentlich immer der wahre Gewinner sei“.

Solche Sätze begründen den Verdacht, wir befänden uns eher im Wolkenkuckucksheim politologischer Begriffsbildung als in der heute real existierenden Bundesrepublik. „Jedem steht es frei“ – schön wär’s! Just darum geht es hierzulande ja im Kern: um die wiederzuerobernde echte Meinungsfreiheit und ein repressionsfreies Sozialklima, das nur weniger gleichgeschaltete Medien garantieren. Unter solchen Voraussetzungen allerdings hätte ich wenig Zweifel, daß sich dann ein ganz anderer Volkswille zeigte.

Statt dessen erlebt man landauf, landab in Hörfunk- und Fernsehstudios „Wutjournalisten“ (NZZ, 14. Mai 2016), die Wähler beschimpfen. Jeder AfD-Parteitag entfesselt einen Mob, der etwa mit Eisenstangen oder brennenden Autoreifen einen geregelten Ablauf behindert (man erinnere sich an Stuttgart). Wir erdulden (meist unter stillschweigender Billigung respektive Alimentierung durch die Altparteien) pure Gewalt, die mehr an Weimar erinnert als an die Paulskirche. Die AfD zählte im Frühjahr bereits 10.000 Übergriffe auf ihre Wahlkämpfer. Im Wahlkampf zur Berliner Abgeordneten­hauswahl sperrte man ihr Räume oder versuchte es, setzte Anhänger beruflich unter Druck oder Führungsvertreter körperlichen Attacken wie polemischer Dämonisierung aus, als hätten manche „wehrhaften Demokraten“ bei Julius Streicher hospitiert.

Populismus protestiert gegen bürokratische Verknöcherungen, Selbstbedienungsmentalität und Bürgerferne einer zu lange unbehelligten Funktionselite. Wer von postdemokratischem Niedergang nicht reden will, möge vom Populismus schweigen. 

Willfährige Journalisten sorgten dafür, daß Nichtopportunes wegretuschiert wurde, bis nach dem Kölner Silvester soziale Medien einsprangen. Kein Wunder, daß nun sie der geballte zivilreligiöse Zorn trifft. Der alles einschließende Vorwand lautet „Haßkriminalität“. Flugs wurden (unkontrolliert wirkende) Schnüffler in dreistelliger Zahl zur Zensur des Internets angeheuert, unter tätiger Mithilfe einer Ex-IM der Stasi. Unseren sonst so sensiblen Justizminister stört dies ebensowenig wie der Umstand, daß 2.000 Privatadressen von AfD-Mitgliedern gestohlen und denunziatorisch („Wir kriegen euch alle!“) publiziert wurden. Verfährt er doch offenbar nach der Devise: „Wer Hetzer ist, bestimme ich.“ Auch der Verfassungsschutz darf sich ohne Not weitere Opfer suchen. Soviel zum Thema „Institutionen“.

Insofern gefährdet oder beschädigt momentan keine Protestbewegung unsere Rechtsordnung mehr als die sogenannte Zivilgesellschaft und bestätigt damit Bernd Lucke, der, damals noch nicht Alfa-geläutert, unsere Demokratie „entartet“ nannte. Ein Verbund profilloser, beliebig koalierender Altparteien mit einem Parlament, das fundamentale Gegensätze kaum noch austrägt, keilt gegen Außenseiter und verklärt die postdemokratische Mentalität der Alternativlosigkeit. Unter Dutzenden alltäglicher Belege von anekdotischer Aussagekraft nur drei:

Da riet Kassels Regierungspräsident einem Landsmann, der sich über ein benachbartes Asylantenheim nicht willkommenskompatibel freuen wollte, er könne ja auswandern. Analog dazu beschied vor rund 150 Jahren der preußische Minister von Rochow die Bürger von Elbing, es stehe dem Untertan nicht zu, „an die Handlungen des Staatsoberhauptes den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen“.

Von postdemokratischer Gesinnung zeugte im Südwestfunk auch das Interview mit Gerd Mielke über ihm unliebsame Demonstranten. Er riet zur Einschüchterung des „Packs“ durch „konsequente Kriminalisierung“. Solche Strategie trenne zumindest AfD und Pegida von ihren „autoritären Mitläufermassen“. „Wenn sich die Mengen von rechtsaffinen Kleinbürgern in Dresden in einem dreistündigen Polizeikessel erst alle mal in die Hose gepinkelt haben und abschließend mit Wasserwerfern traktiert wurden, dann haben sie für eine geraume Weile genug vom Demonstrieren.“ Dieser Mann – das ist die eigentliche Pointe – lehrt unbehelligt Politik und berät die Mainzer Staatskanzlei.

Und nachdem sich bei Stimmauszählungen mandatsrelevante „Irrtümer“ zu Lasten sogenannter rechter Parteien (in Bremen 2015 besonders fahrlässig) wiederholten, bloggte der hessische CDU-Landtagsabgeordnete und Rechtsanwalt Hartmut Honka konsequenzlos: „Was ist schlimmer? Schüler fälschen Wahl oder ein Sitz mehr für die AfD?“ Auch gegen solches Demokratieverständnis steht der Widerstandsruf „Wir sind das Volk“. Und gegen solche Verblendung wirkt als heilsames Gegengift nur Populismus.

 Wenn dieser Begriff also mehr enthält als tagespolitische Ausgrenzung, definiert er eine erwartbare, vielfach notwendige Antithese zu postdemokratischen Verwerfungen. Populismus protestiert gegen bürokratische Verknöcherungen, Selbstbedienungsmentalität und Bürgerferne einer zu lange unbehelligten Funktionselite. Wer von postdemokratischem Niedergang nicht reden will, möge vom Populismus schweigen. Denn beide bedingen und ergänzen sich als Komplemente.

Gerade in der relativen ökonomischen Prosperität Westeuropas bedurfte es schließlich schon gewaltiger Erschütterungen, bevor sich breite Massen plötzlich für Politik interessieren. Üblicher ist, daß man sich, mehr oder weniger murrend, vertreten läßt und auf Brot und Spiele konzentriert. Populismus dient somit als Lackmustest für den jeweiligen Zustand einer Demokratie. Sein Erstarken indiziert eine Repräsentationskrise. Und falls er tatsächlich zur Gefahr werden sollte, wäre mehr noch über die eigentlichen Ursachen und Verursacher zu sprechen.

Ansonsten, vergessen wir es nicht, bei aller Differenz der Systeme: Der Kampfruf „Wir sind das Volk“ stand schon einmal gegen anmaßende Volkserzieher einer Expertokratie, die genau zu wissen vorgab, was ihren Schützlingen frommt.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Historiker und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Lage der Geschichtswissenschaft („Kumpane des bloß Korrekten“, JF 8/15).

Foto: Stimme des Volkes: Ist der Populist nicht einfach nur ein programmatisch ungeliebter, populärer Macht-Konkurrent?