© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Willkommenskultur an der Neiße
Im September 1916 wird ein griechisches Armeekorps in Görlitz interniert
Paul Leonhard

In Viererreihen, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett über der Schulter, zieht am 28. September 1916 griechisches Militär durch die Straßen des schlesischen Görlitz. An der Seite der schier unendlichen Kolonnen sind die Unteroffiziere zu erkennen. Ein Stück weiter stehen Gendarmen. Mit Parade und hinter einer preußischen Musikkapelle marschieren etwa 6.500 Soldaten und Offiziere des 4. griechischen Armeekorps, die nach und nach in zehn Eisenbahntransporten eintreffen, vom Bahnhof über die Neißebrücke zu einem in der Oststadt gelegenen Barackengelände. Dort steht in großen Buchstaben auf einem mit Girlanden geschmückten Tor „Xaipete!“ – Willkommen.

Das sind sie tatsächlich. Die Görlitzer sind von ihrer Stadtregierung auf das ungewöhnliche Geschehen vorbereitet worden und verfolgen den Vorgang aufmerksam. Sie tragen Festkleidung, einige haben sich sogar Klappstühle mitgebracht, um beim Einzug der fremden Soldaten nichts zu verpassen. Zuvor waren die Griechen auf dem Bahnhof durch Oberst Otto von Estorff, Flügeladjutant des Kaisers, feierlich begrüßt worden. Historische Fotos halten diesen Moment fest. Sie zeigen ein halbes Dutzend hoher deutscher Offiziere mit Pickelhauben und Görlitzer Honoratoren mit Zylindern sowie den griechischen Obristen und Platzkommandanten Karakallos, einen hochgewachsenen Mann. Estorff hält einen versiegelten Umschlag in der Hand. Die kaiserliche Versicherung, daß die Griechen keine Kriegsgefangenen, sondern Gäste der deutschen Reichsregierung sind.

16 Tage zuvor war der Kommandierende des 4. griechischen Armeekorps in Kawala einem Angebot von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gefolgt und hatte die Oberste Heeresleitung darum gebeten, seine „braven, königs- und regierungstreuen Truppen vor dem Drucke der Entente in Schutz zu nehmen und ihnen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren“. Diese waren durch das Vorrücken deutscher und bulgarischer Truppen in Griechisch-Mazedonien einerseits sowie französischer und britischer Truppen andererseits in eine schwierige Situation geraten. 

Eingeschlossen zwischen Mittelmächten und Entente, die sich beide wenig um die griechische Neutralität scherten, hatten die Griechen keine direkten Kontakte mehr zur eigenen Armeeführung. Der General mußte sich entscheiden und er entschied sich – wie von den Mittelmächten erhofft und wohl auch mit Blick auf die familiären Verbindungen zwischen König Konstantin I. und dem deutschen Kaiser Wilhelm II. – für eine Internierung in Deutschland.

Ein Stück Griechenland in Niederschlesien

„Um jeder Verletzung der Neutralität vorzubeugen, ist mit dem kommandierenden General vereinbart worden, die griechischen Truppen, voll bewaffnet und ausgerüstet, als Neutrale in Unterkunftsorte in Deutschland zu überführen. Sie werden hier Gastrecht genießen, bis ihr Vaterland von den Eindringlingen der Entente verlassen sein wird“, heißt es im offiziellen deutschen Heeresbericht vom 13. September 1916.

In Berlin hatte man entschieden, die Griechen in Görlitz zu internieren, einer mitten im Reich gelegenen 90.000-Einwohner-Stadt mit einer Garnison, hervorragend ans Eisenbahnnetz angebunden. Hier war ausreichend Fläche, um ein Armeekorps innerhalb kürzester Zeit unterzubringen. Das rasch errichtete Lager erhielt einen exterritorialen Status und eine Selbstverwaltung, die Soldaten bewegen sich frei und eigene Polizeistreifen patrouillierten. Sogar eine griechischsprachige Zeitung wurde herausgegeben. Die Offiziere konnten privat Quartier nehmen und erhielten ihren Sold.

Das änderte sich erst, als Konstantin I. 1917 abdankte und Griechenland sich auf die Seite der Entente schlug. Die internierten Griechen standen nun vor der Wahl, sich weiterhin neutral zu verhalten oder als normale Kriegsgefangene behandelt zu werden und zu arbeiten. Unter den Offizieren kam es, die spätere nationale Spaltung der griechischen Gesellschaft vorwegnehmend, zu einer sich immer weiter verschärfenden Fehde zwischen königstreuen und entente-freundlichen. Letztere wurden schließlich in ein Lager in der westfälischen Kleinstadt Werl verlegt.

Als das Kaiserreich 1918 zusammenbrach, herrschten im vorrangig bürgerlich-sozialdemokratischen Görlitz „chaotische Zustände“, hat Daniela Kratz in ihrem 2005 veröffentlichten Werk „Griechen in Görlitz 1916–1919. Studien zu akustischen Aufnahmen des Lautarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin“ recherchiert. Im Internierungslager brach jegliche Ordnung zusammen, und die griechischen Soldaten plünderten und zerstörten wahllos. 

Sogar eine Gegenkommandantur bildete sich, deren Führung der entente-freundliche Oberst Synaniotis übernahm. Der bisherige Kommandant, der königstreue Oberst Karakalos, bat schließlich den Arbeiter- und Soldatenrat um Hilfe, der widerum eine schnelle Reaktion des Kriegsministeriums verlangte. Oberst und Rat befürchteten, daß es durch die allgemeinen Unruhen Zusammenstöße zwischen dem Korps und der Bevölkerung geben könnte.

200 Griechen blieben dauerhaft in Görlitz

In Berlin wurde daraufhin die sofortige Rückführung der Mannschaften auf britischen Schiffen nach Griechenland angeordnet. Dem versuchten sich die Soldaten durch eine Massenflucht in Richtung böhmische Grenze zu entziehen. Letztlich kehrten fast alle Internierten Anfang 1919 in ihre Heimat zurück. Lediglich etwa 200 blieben in Görlitz, gründeten Familien und 1921 einen griechischen Verein. Das Adreßbuch von 1923 verzeichnet 15 griechische Geschäfte.

An den Aufenthalt des griechischen Armeekorps erinnern heute in Görlitz nicht nur die Grabmale des Kommandanten und weiterer sechs Offiziere in Form von sieben Stelen auf dem Städtischen Friedhof und das daneben befindliche Gräberfeld für 126 ihrer Soldaten, sondern auch einzigartige Plattenaufnahmen im Lautarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sie entstanden im Juli 1917, als die Königlich-Preußische Phonographische Kommission das Lager in Görlitz besuchte, um für ein geplantes Stimmenmuseum der Völker griechische Dialekte und Gesänge aufzunehmen. Die erhaltenen Schellackplatten gelten als die ältesten griechischen Schallplatten und enthalten die weltweit erste Aufzeichnung eines Rembetikoliedes mit Bousoukibegleitung.